Rungholt: Kirche von versunkenem Handelsplatz entdeckt

Stand: 24.05.2023 09:39 Uhr

Es gibt nur wenige Orte in Deutschland, um die sich so viele Mythen, Sagen und Legenden ranken wie um Rungholt, das bei einer Sturmflut im Mittelalter in der Nordsee versunken sein soll. Nach über 100 Jahren ist nun geklärt, wo sich die versunkene Stadt geografisch befindet.

von Thomas Samboll

Die einen haben die Rungholt-Siedlung an der Westküste des heutigen Schleswig-Holsteins mit dem alten Rom verglichen, andere vermuteten dort sogar das geheimnisvolle Atlantis.

Forscherteam entdeckt Kirche

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Ein Team von Wissenschaftlern arbeitet an einem Forschungsprojekt im Nordfriesischen Wattenmeer. © uni-kiel.de Foto: Justus Lemm

Hallig Südfall: Kirche von versunkenem Handelsplatz Rungholt entdeckt

Rungholt gilt als das "Atlantis der Nordsee". Forschende waren sich über ein Jahrhundert lang uneinig, wo genau sich der versunkene Ort befindet - bis jetzt. mehr

Nun konnten Forschende, unter anderem von der Uni Kiel, in einem Gemeinschaftsprojekt den Standort der Rungholter Kirche im nordfriesischen Wattenmeer lokalisieren. Das teilte das Archäologische Landesamt Schleswig-Holstein mit. Das Forscherteam habe bei der Hallig Südfall (Kreis Nordfriesland) eine bislang unbekannte, zwei Kilometer lange Kette mit Siedlungshügeln entdeckt. Einer dieser Hügel zeige Strukturen, die zweifelsfrei als Fundamente einer Kirche zu deuten seien, so das Forschungsteam.

Über 100 Jahre Rungholt-Forschung

2022 wurde das Jubiläum 101 Jahre Rungholt-Forschung gefeiert - das runde 100-jährige Jubiläum musste wegen Corona ausfallen. Die tollsten Fundstücke gab es aber im benachbarten Husum zu sehen. Im Nordfrieslandmuseum Nissenhaus, kann man sogar einem echten Rungholter in die Augen schauen. Er heißt Wilhelm, und er ist der Star der Rungholt-Ausstellung im Nissenhaus, das nur wenige Schritte vom Husumer Bahnhof entfernt liegt. Wilhelm hat helle Haare, helle Augen und einen markanten Kinnbart. Und er könnte sicher eine ganze Menge über die Geschichte und den Untergang Rungholts erzählen.

Eine Rekonstruktion der Karte von Rungholt aus dem Jahr 1652 von dem Karthographen Johannes Mejer © picture-alliance/ dpa | Horst Pfeiffer Foto: picture-alliance/ dpa | Horst Pfeiffer
Eine Rekonstruktion der Karte von Rungholt aus dem Jahr 1652 von dem Karthographen Johannes Mejer.

Aber der junge Mann steckt gut verwahrt in einer Vitrine, so Museumsleiterin Tanja Brümmer: "Wilhelm ist die Gesichtsrekonstuktion eines Rungholters. Wir haben einen bestimmten Schädel bei uns aus der Sammlung rausgesucht, bei dem wir auch sicher sein konnten, dass er tatsächlich im Siedlungsgebiet von Rungholt gefunden worden ist. Mithilfe einer Gerichtsmedizinerin wurde eine Gesichtsrekonstruktion hergestellt. Und anhand von DNA-Analysen konnten wir dann auch wirklich sagen, welche Augenfarbe und welche Haarfarbe er in etwa hatte. Ein halbes Jahr lang hat sein Schädel bei mir auf dem Schreibtisch gestanden. Ich habe ihn jeden Tag angeguckt. Und irgendwann habe ich gesagt: Guten Morgen, Wilhelm! Und dann war der Name da."

Einige Funde im Nissenhaus rauben einem den Atem

Im Gedicht von Detlev von Liliencron heißt es: "Heut bin ich über Rungholt gefahren." Was Wilhelm wohl zum Gedicht von Detlev von Liliencron sagen würde, das in Nordfriesland vermutlich jedes Kind kennt und natürlich auch im Nissenhaus zu hören ist? "Vön lärmenden Leuten und betrunkenen Massen" ist da die Rede, die die Nordsee als Teich verspotten und damit ihren Untergang heraufbeschwören. In Wahrheit war wohl alles ganz anders, betont Tanja Brümmer, die deshalb in der Ausstellung auch besonderen Wert auf das Alltagsleben der Menschen von Rungholt legt und weniger auf die Darstellung der großen Flut.

Nervenkitzel spielt im Nissenhaus also keine Rolle. Dafür können einem einige der gezeigten Funde durchaus den Atem rauben. "Was ich besonders großartig finde, das sind die maurischen Krüge, die im Rungholt-Gebiet gefunden worden sind. Das heißt, die kommen wirklich aus Südspanien, wo damals die Mauren gelebt haben. Außerdem haben wir islamische Ikonographien und Symboliken auf diesen Keramiken. Wenn man ganz genau hinschaut, dann sieht man zum Beispiel direkt am Ausguss die Hände der Fatima als Glückssymbol für denjenigen, der daraus trinkt. Und das ist ein besonders schöner Gedanke, wenn man sich vorstellt: lslam und Katholizismus gemeinsam auf Rungholt."

Rungholts Funde: Schwerter und Schmuck aus England und Dolche und kostbare Keramik aus Spanien

Rätselhaft sind dagegen immer noch die Schwerter, deren Reste in der Nähe der Hallig Südfall gefunden wurden - dort, wo Spuren im Watt auf eine größere Siedlung hinweisen, bei der es sich um Rungholt gehandelt haben könnte: "Es sind halt englische Typen. Aber woher kommen diese Waffen? Wer hat sie in der Hand gehabt? Warum und wieso? Das sind keine Bauern, die diese Waffen tragen, sondern freie Friesen. Trotzdem, im 14. Jahrhundert sind Schwerter eigentlich dem Adel vorbehalten: Was passiert da? Ich bin gespannt, ob wir das Rätsel vielleicht irgendwann mal gelöst kriegen." Schwerter und Schmuck aus England, Dolche und kostbare Keramik aus Spanien - all das zeigt, dass es hier an der Nordsee tatsächlich einmal einen ganz besonderen Ort gegeben haben muss. Keine Stadt, wie Dichter Liliencron es darstellte, und schon gar kein Rom oder Atlantis - aber doch schon eine größere Siedlung von überregionaler Bedeutung. In der maurisches Küchengeschirr aber wohl doch eher die Ausnahme war. Stattdessen wurde alltäglich in eher schmucklosen Kugeltöpfen aus Keramik gekocht.

Bei Watt-Wanderungen und windstillen Tagen könne man die Glocken von Rungholt hören

Im Museum kann man auch erfahren, was damals dann so auf den Tisch kam, erklärt Rungholt-Forscher Bente Sven Majchczak von der Uni Kiel: "Gerade in Nordfriesland, auf den Inseln, aber auch bis in die Neuzeit hinein, gab es sehr viele Eintopfgerichte, wo in unterschiedlichsten Formen Getreide, Fisch und Fleisch verarbeitet worden sind. Und so etwas wird in dem Topf vor 700 Jahren auch drin gewesen sein." Wer den Rungholtern also gern mal in die Eintopf-Pötte oder ins Gesicht gucken will, muss dafür als Erwachsener fünf Euro Eintritt bezahlen, Familien zahlen insgesamt zehn Euro.

Dafür kommt man dem versunkenen Ort und seinen Bewohnerinnen und Bewohnern so nah wie selten. Und mit Glück gibt es auch noch heiße Tipps von Museumsleiterin Tanja Brümmer für die nächste Watt-Wanderung zwischen Nordstrand, Pellworm und Hallig Südfall, wo man angeblich an windstillen Tagen immer noch die Glocken eines gottverfluchten Ortes läuten hören kann - und nicht nur das. "Die Glocken der Rungholter Kirche, die hört man natürlich immer um die Mittagszeit. Und nicht zu vergessen ist es ja so, dass, wenn eine Jungfrau, die an einem Sonntag geboren worden ist, am zweiten Johannistag um die Mittagszeit über Rungholt hinwegfährt, dass sie ja dann die Stadt wieder erlösen kann von ihrem Fluch!"

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