Ihre Meinung: Soll sich die Kultur selbst beschränken?
Ursprünglich beschreibt der aus den USA stammende Begriff "Cancel Culture" das Phänomen, dass zum Beispiel prominente Personen oder deren Äußerungen im Internet von einer anderen Person oder einer Gruppe "gecancelt", also "ausradiert" werden. Mittlerweile beschreibt "Cancel Culture" vollkommen unterschiedliche Dinge: das Blocken eines Twitter-Accounts im Internet, die Entfernung von Statuen oder Denkmälern oder die Absage einer geplanten Kulturveranstaltung, wie beispielsweise die Lesung von Kabarettistin Lisa Eckhart auf dem Harbour Front Literaturfestival in Hamburg.
Sie haben uns geschrieben!
Sie haben uns geschrieben, was Sie vom Phänomen "Cancel Culture" halten? Soll sich die Kultur selbst beschränken? Einige ausgewählte Zuschriften haben wir an dieser Stelle veröffentlichen.
Ihre Meinung
Selbstbeschränkung der Kultur - sinnvoll oder nicht? Hier sind einige Ihrer Zuschriften:
H-Jürgen Schmidt (ohne Ortsangabe)
Man darf in den Medien wie den ÖR eben nicht mehr seine Meinung sagen, wenn sie nicht dem links grünen Mainstream entspricht. Wenn doch, wird man halt nicht mehr eingeladen oder findet sich ganz schnell in der rechten Ecke wieder. Die Vorgänge um Lisa Eckhart und auch um Uwe Steimle haben das doch ganz deutlich gezeigt. Für mich, nur die Spitze des Eisbergs. Linke Chaoten bestimmen jetzt schon in vielen Fällen, wer auftreten darf und wer nicht. Für mich gehören auch die Uni Verbote gegen Lucke und andere, durch linke Störer, ebenfalls dazu. Ich kann mir nicht vorstellen, das z.B. Dieter Nuhr in Zukunft noch öfters in den ÖR zu Wort kommen wird. Schließlich hat er Partei für Lisa Eckhart ergriffen und auch schon in anderen Fällen seine Meinung gesagt ,die bei den ÖR und ihren Stammzeitungen wie die SZ eben nicht gerne gehört werden.
Elanne Kuck aus Bovenden
1. Als gewaltfreie Dissidentin habe ich die Stimmung von Leuten erfahren, die wie bei Lisa Eckart "mitmischen" wollten. - Sie waren nicht zu überzeugen, doch etwas Humorvolles zu machen, sondern es waren kriegslüsterne Männer, vor denen ich als Künstlerin ausgewichen wäre. Wo sind diese damaligen Studenten heute? Bestimmen Sie etwa mit, was gesagt wird? 2. Ein Künstler kann einem auch den Spiegel vorhalten: Was, du hast bei diesem Witz gelacht? Darum Vorsicht. 3. Vielleicht geht es gar nicht darum, ob du links/rechts/mitte oder demokratisch bist, sondern darum, ob du Herdentier bist? Das ist interessant für den Staat, ob du mitklatscht als Zuhörerin oder protestieren oder hinausgehen magst. 4. Die Feindschaft gegen Lisa Eckart hat auch mit der falschen! und unzureichechenden Berichterstattung über Österreich zu tun! Cancel report. 5. Es reicht ein böses Gerücht, schon ist jemand rechts und bei Hunderten unmöglich gemacht. Meine lieben Freunde lieben das Wort Almende. Aber wo kommt es her? Nein, das Wort nicht aussprechen, nicht denken! Vielleicht ist auch das Wort Almende unmöglich. Eine Frau sagte zu mir: Freud und Leid teilen, das sei gefährlich. Da sind wir angekommen. 6. Jetzt hoffe ich, kommt die Mail an.
Sigrid Anderl aus Erlangen
Das ist wieder so ein Schwachsinn aus USA, dem manche Deutsche hinterherhecheln. Müssen sich Kunstschaffende, Kabarettisten usw. selbst bescheiden, damit sie nicht aus Veranstaltungen ausgeladen werden? Ich entscheide was mir gefällt, aber was mache ich, wenn vor mir schon entschieden wurde, was für mich gut oder schlecht ist. Das macht mir Angst. Wie soll ich mir eine Meinung bilden, wenn diese vorgegeben ist. Wie hört sich ein Gespräch an bei dem auf Alle Rücksicht genommen wird. Etwa so: wrigfrigs. Zu diesen Losern, die Menschen ein und wieder ausladen. Haben die nicht gelernt, wie man seine Meinung vertritt? Es kann unbequem sein gegen den Strom zu schwimmen, aber gibt der Klügere immer nach haben wir die Diktatur der Dummen. Also aufrichtig bleiben. Ich hätte natürlich überall frau, in, Sternchen anbringen können, aber ehrlich mal, wer kann so etwas ohne zu Stottern lesen.
Erik V. Hansen aus Berlin
Kultur ist ja per se schon immer im Wandel, nie statisch. Insbesondere Satire (darum ging es ja hauptsächlich im Beitrag) LEBT davon, dass sie am Puls der Zeit ist und dort hinzeigt, wo es weh tut, um Doppelmoral zu enlarven. Wem das zu kompliziert ist, muss ja nicht hingehen, wo die Künstler auftreten. Der darf mit dem Hintern gerne zu Hause bleiben. Letztinstanzlich entscheiden Gerichte.
So, "gecancelte" Lesungen und Auftritte von Künstlern: SKANDAL! Einfach mal durchatmen! Man stelle sich nur mal vor, wenn ein Pilot bei jedem Schmetterling gleich zusammenzucken würde.
Persönlich schockierte mich, dass Dieter Nuhr auch Betroffener sein soll. Dieter Nuhr ist zur Zeit einer der qualitativ feinsinnigsten Satire-Künstler, mit genau zielenden, nie nieveaulosen Pointen. Nur nichtinformierte und dumme Menschen verstehen nicht den Sinn. Solche aber, die nur auf den Putz hauen wollen - weiter klicken oder umschalten. Verwundert indes hatte mich das Statement von Sascha Lobo, den ich ansonsten schätze. Mein Eindruck war, er wollte sich durch (einigermaßen) geschickte Rhetorik aus diesem Thema herausmanöverieren. Leider eher gegen die Künstler. Er sollte wissen, dass so ein neuer Trend IMMER Spuren hinterlässt und NATÜRLICH eine Bedrohung werden kann. Die Reaktion des WDR auf die hysterische Klein-Demo wegen des Videos der singenden Kinder...(OHNE WORTE).
Beatrice Kroll aus München
Meinungsfreiheit ist ein hohes demokratisches Gut, das weder direkt noch indirekt - durch Selbstbeschränkung aufgrund von äußerem Druck - eingeschränkt werden darf. Allerdings hat sie natürliche Grenzen, die nicht mit cancelling Culture verwechselt werden dürfen: Beleidigungen, Ehrverletzungen, Rassismus und Diskriminierung fallen nicht unter die Meinungsfreiheit und haben in der demokratischen Debatte nichts verloren. Auch darf eine Tatsachenbehauptung, die unter die Meinungsfreiheit fällt, nicht - wie von Donald Trump oder allerlei anderen Populisten vorgegaukelt - mit der Tatsache selbst verwechselt werden. Dass die Grenze zwischen Meinungsfreiheit und künstlerischer Übersteigerung als Stilmittel einerseits sowie der Ehrverletzung und Lüge andererseits gelegentlich schwer zu ziehen ist, gehört zum Wesen der Demokratie und zur politischen Debatte. Das muss die Demokratie aushalten, um sich immer wieder zu schärfen und zu bestätigen. Klar ist allerdings die Grenze dort überschritten, wo wir die Debatte über das Wesen der Meinungsfreiheit nicht mehr in gegenseitigem Respekt sondern ausschließlich demagogisch führen. Der Diskurs über Cancelling Culture und "das wird man ja wohl noch sagen dürfen" droht jedoch immer dann ins Demagogische abzurutschen, wenn er nicht im offenen Meinungsaustausch und zur Grenzziehung geführt wird, sondern als schlichtes politisches - linkes wie rechtes Statement - missbraucht wird: Eine vorgeschobene Diskussion über Meinungsfreiheit mit dem Ziel, andere Meinungen von der Diskussion auszuschließen, dient nur dazu das demokratische System am Nasenring durch die Manege zu führen.
Uwe Lütjohann aus Preetz
Die Überheblichkeit ist in Deutschland zurückgekehrt. Dieses Mal sind es die Moralisten, die glauben, sich über andere erheben zu dürfen. Und da sie der unerschütterlichen Gewissheit verfallen sind, im Besitz der "Wahrheit" zu sein, sehen sie sich moralisch und intellektuell unangreifbar. Das impliziert aus ihrer Sicht, dass Menschen mit einem anderem Blickwinkel folglich das "Falsche" vertreten, das Unmoralische, das Reaktionäre, das Intolerante, das Dumme. Daher sind Andersdenkende moralisch und intellektuell unterlegen und dürfen (müssen?) auf jede gefällige Art und Weise bekämpft werden. Der Zweck heiligt dabei die Mittel, es gilt schließlich, das Gefährliche auszurotten. Diese Sichtweise einer erschreckend ansteigenden Anzahl von Mitbürgern vor allem aus dem bildungsbürgerlichen, medialen und intellektuellen Milieu bildet die Grundlage für solche außerdemokratischen, skurrilen und unwürdigen Auswüchse wie Cancel-Culture, "Faktenfinder" oder den gleichgeschalteten medialen Opportunismus. Vernunft, Meinungsdiversität und Liberalität werden durch Haltung sowie Diskreditierung Andersdenkender ersetzt. Eine sehr bedenkliche Entwicklung.
Martina Weiss aus Greifswald
Sehr schlimm oder einfältig empfinde ich auch starke Bestrebungen, beim Blick auf die Geschichte heutige Maßstäbe zu verwenden, beispielsweise (in übertriebener Form) Künstler oder bedeutende Menschen der Vergangenheit übertrieben stark zu kritisieren, ihre Namen von Straßen oder Universitäten und Schulen abzulegen. Das betrifft Größen wie I. Kant, E.M. Arndt, Bismarck u.a. Ja sogar vor der Beschädigung von herausragenden Kunstwerken wie Mozarts "Zauberflöte" schreckt man nicht zurück, man "säubert" Kinderbücher etc.
Dies alles finde ich unerträglich und überaus arrogant. Jedoch möchte ich eins klarstellen - selbstverständlich gibt es in diesem Zusammenhang auch Grenzen. Diese sollten sich auf Verbrecher oder eindeutige Verbrechen gegen die Menschlichkeit beziehen. Zum Beispiel würde ich auf jeden Fall für die Entfernung eines Denkmals von König Leopold II. von Belgien , der verantwortlich für die Ermordung von ca. 9 Millionen Schwarzafrikanern war, eintreten
Andrea Adil aus Göttingen
Die Kunst lebt doch gerade von der Freiheit, in der sie ausgeübt wird, und von der Vielfalt an Meinungen, Denkweisen und Stilrichtungen, die die Künstlerinnen und Künstler einbringen. Dass es dabei auch zu Kontroversen über einzelne Werke oder deren Schöpfer kommt, bleibt natürlich nicht aus und gehört zu einer lebendigen Kunst dazu. Wenn sich die "Kunst" als Ganzes nun den selbsternannten Wächtern einer politischen Korrektheit unterwürfe, wäre sie meiner Meinung nach so gut wie tot oder zumindest gelähmt. Wie soll man denn wirklich etwas Neues schaffen, wenn man ständig Angst davor hat, irgendwo anzuecken?
Als erwachsene Menschen müssen wir auch damit fertig werden, dass Dinge gesagt, geschrieben oder gezeigt werden, die uns nicht gefallen oder unser Empfinden verletzen. Jeder Mensch hat natürlich seine eigenen Grenzen, aber dafür sind Debatten und Auseinandersetzungen in der Kunst und Kultur da.
Es versteht sich dabei allerdings auch von selbst, dass Rassismus, Faschismus und die Verletzung der Menschenwürde nicht geduldet werden dürfen und keine Bühne in der Kunst geboten bekommen sollen.
Norbert Schmidt aus Hamburg
Ich finde es sehr bedenklich, wie sich selbst ernannte Sittenwächter zu Zensoren aufspielen, wenn ihnen etwas missfällt. Das hatten wir in Deutschland schon mal, und ich möchte nicht, dass es wiederkommt. Jedes Mal haben sich solche Leute als moralisch über den Kritisierten stehend definiert. Das gab es in Deutschland mit dem gesunden Volksempfinden und anderen Staaten kann man es aktuell beobachten, wie Türkei, Russland, Iran, Ungarn, Polen etc. Zum Glück geht es in Deutschland noch nicht von staatlicher Seite aus. Aber diese Kräfte gewinnen immer mehr an Einfluss. Es ist schon irre, wenn Astrid-Lindgren-Bücher und andere umgeschrieben werden.
Gerade am Beispiel von Lisa Eckhart wird es deutlich. Der Witz lebt von der Überraschung. Und das beherrscht sie sehr gut. Da kann einem auch das Lachen mal im Halse stecken bleiben. Aber das macht es aus. Bei vielen anderen Kabarettisten weiß ich schon, was kommt, wenn sie mit einem Thema anfangen. Sehr langweilig. Ich finde, es würde der Gesellschaft wieder mehr Toleranz guttun. Das ist kein Freibrief für offen faschistische oder andere menschenverachtende Ansichten.
Daniel Rohden aus Aurich
Cancel Culture ist falsch. Ich las einst, ich weiß leider nicht mehr wo, Folgendes: "Die Qualität einer Diskussion erkennt man an der Anzahl differierender Meinungen". Jede Form von canceling ist falsch. Karl Popper würde im Grabe rotieren, wenn er wüsste, dass man einmal darüber diskutieren würde, ob das canceling von Künstlern richtig oder falsch sei. Wenn Professoren Vorlesungen nicht halten können/dürfen, Kabarettisten wortwörtlich die Bühne verwehrt wird und wenn Buchhandlungen durch Drohungen dazu gezwungen werden sollen, Bücher aus dem Sortiment zu nehmen, dann ist das wirklich keine wünschenswerte Entwicklung.
Es mag Leute geben, die sagen: "Eine von 1000 Meinungen weniger, was macht das schon?" Der folgerichtige Gedanke dessen ist: "Eine von 10 Meinungen weniger, was macht das schon?" Das Ende kann man erahnen. Der Voltaire zugeschriebene Satz "Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst" hat für viele Menschen leider an Bedeutung verloren. Das muss sich wieder ändern, denn keiner kennt die absolute Wahrheit, daher benötigen wir einen möglichst offenen Diskurs in möglichst vielen Themen. Das beinhaltet auch, Meinungen zu hören, die wir vielleicht nicht hören wollen. Aber wir müssen es.
Tobias Richter aus Hamburg
Ganz klar, nein.
Wir leben in komischen Zeiten, zum Schutz unserer Demokratie, unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung wird in selbige eingegriffen.
Es wird ausgegrenzt, es wird die "richtige"Meinung" vorgegeben, es werden "falsche"Ansichten sofort diskreditiert. Es sind nicht nur komische Zeiten, es sind gefährliche Zeiten, denn Demokratie lebt von der Freiheit der Person und Gedanken, der unterschiedlichen Meinungen und auch von diskussionswürdigen Ansichten. Das ist wahre Freiheit und wir wandeln auf einem sehr schmalen Grad hin zu einer Diktatur der Meinungen.
Auch der NDR, wie die anderen Teile des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, bestreitet seit einiger Zeit einen gefährlichen Weg, ob in der politischen Betrachtung oder im übertriebenen Anwenden des Genderns bzw. der politisch korrekten Bezeichnungen.
Interessanterweise sind Universitäten und Hochschulen federführend beim "Cancel Culture", was eigentlich dem Sinn von Universitäten und Hochschulen, nämlich der Wissensfindung, widerspricht.
Ob man Pippi Langstrumpf ändert oder das Zigeunerschnitzel umbenennt oder den Hörer als Hörende bezeichnet, es ist ein sehr schmaler Grad, auf dem wir wandeln. Freiheit und in diesem Falle die Freiheit der Kunst muss immer gegeben sein, denn Freiheit beginnt bei den Gedanken und diese sind frei. Die Biographin von Voltaire legte diesem einst einen Ausspruch in den Mund: "Ich mag diese Gedanken zwar nicht teilen, aber ich werde sie bis zum Tode verteidigen, damit sie diese haben dürfen" (frei übersetzt). Auch bin ich der Meinung, dass Orwells "1984" und "Die Farm der Tiere" Pflichtfach in jeder Schule sein müssen, denn man kann gar nicht früh genug lernen, was "Cancel Culture" bedeutet.
Peter Flak aus Dägeling
Der vermeintliche Begriff "cancel culture" ist seiner vermeintlichen Dikussionswürdigkeit prompt entschlagen, wird er mit spitzer Feder ins Deutsche übertragen: "Kultur des Ausmerzens" wäre ein und durchaus erlaubter Ausdruck - berücksichtigt er doch seine Entstehungsgeschichte in den sogenannten "sozialen Medien" der USA - kein Hort gesellschaftlichen Diskurses, vielmehr ein Kampfplatz zu glaubenskriegsartigem Schlagabtausch von Überzeugungen.
"Cancel Culture" trägt in sich aus europäischer Sicht einen unauflösbaren Widerspruch. Durch eine adäquate Übersetzung wird augenfällig: Die Fußangel liegt in der unreflektierten Gleichsetzung von culture mit Kultur. Mit Kultur im europäischen Sinn ist immer rationaler Diskurs verbunden. Wo dieser Prozess verkürzt, zerbrochen wird durch Druck aus sogenannten sozialen Medien, aus Opportunismus oder durch politisch/ökonomische Macht, hört Kultur auf. Jeder aktuelle Fall, der diese Kriterien aufweist, ist konkret zu diskutieren - dann erübrigt sich ein nachträgliches Lamento auf "kulturkritischem" Niveau.
Ralph Carstensen aus Lübeck
"Cancel Culture" übersetze ich mit Abschaffung der freien Meinungskultur, gründend auf dem fehlenden Respekt des - manchmal vermeintlich - politisch Andersdenkenden. Eine fatale Entwicklung, die mit demokratischen Prinzipien nichts gemein hat. Der CC fehlt auch die Fertigkeit des Differenzierens. Bilder/Musik/Worte eines Menschen werden verehrt und bejubelt, doch weiß man von dessen konträrer politischen Einstellung, verlieren die Dinge ihren Wert. Als die Kanzlerin von Noldes Antisemitismus erfuhr, verloren dessen Landschaften ihre Schönheit und mutierten zum Politikum.
Astrid Vehstedt aus Berlin
Man kann das "Canceln" im Kontext von Smartphone und Twitter verstehen, die einfachste Inhalte befördern und die kritische Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit der NutzerInnen herunterdimmen. Wer alles, was unangenehm ist, wegwischen oder löschen kann, der verlernt, sich auseinanderzusetzen oder, positiv formuliert, sich mit dem anderen zu befassen. Letztendlich gilt das nicht nur mehr für unliebsame Meinungen, sondern für jegliches Problem, das "gelöscht" wird. Übrig bleibt das, was David Foster Wallace den "unendlichen Spaß" nannte oder Aldous Huxley die "schöne neue Welt". Das differenzierte, dialektische Denken kann letztendlich durch eine Meinungsdiktatur überrollt werden. Ein Beispiel ist das Twittern von Donald Trump, das inzwischen schon global mit Politik verwechselt wird.
Was gelöscht wurde, ist damit allerdings nicht aus der Welt, sondern kommt eines Tages mit Vehemenz zurück an die Oberfläche.
Eugen Grünberg aus Bremen
Niemand sollte mundtot gemacht werden. So etwas führt immer zu einer Sprachlosigkeit und Ohnmacht.
Cancel Culture ist schon vom Wort her ein Widerspruch in sich, weil Ausradieren eine Zerstörung und Zensur von Kulturgut ist, das Verhindern und Vermeiden einer Kritik, Auseinandersetzung und Weiterentwicklung. Wer überwacht die Wächter? Wer legt fest, was richtig und falsch ist, auszuradieren ist, und will das korrigieren?
Die Kunst ist frei, nicht zuletzt weil der Mensch sonst nicht Mensch, geschweige denn frei sein kann.
Das ändert nichts daran, dass Debatten geführt und Kontroversen ausgehalten werden müssen. Nur will Cancel Culture diese ja eben gerade abwürgen, ihnen selbst sich nicht stellen.
Ich will mir da schon lieber selbst eine Meinung bilden, anstatt bevormundet und auf fragwürdige Weise im Denken betreut zu werden!
Uwe Lütjohann aus Preetz
Die Überheblichkeit ist in Deutschland zurückgekehrt. Dieses Mal sind es die Moralisten, die glauben, sich über andere erheben zu dürfen. Und da sie der unerschütterlichen Gewissheit verfallen sind, im Besitz der "Wahrheit" zu sein, sehen sie sich moralisch und intellektuell unangreifbar. Das impliziert aus ihrer Sicht, dass Menschen mit einem anderem Blickwinkel folglich das "Falsche" vertreten, das Unmoralische, das Reaktionäre, das Intolerante, das Dumme. Daher sind Andersdenkende moralisch und intellektuell unterlegen und dürfen (müssen?) auf jede gefällige Art und Weise bekämpft werden. Der Zweck heiligt dabei die Mittel, es gilt schließlich, das Gefährliche auszurotten.
Diese Sichtweise einer erschreckend ansteigenden Anzahl von Mitbürgern vor allem aus dem bildungsbürgerlichen, medialen und intellektuellen Milieu bildet die Grundlage für solche außerdemokratischen, skurrilen und unwürdigen Auswüchse wie "Cancel Culture", "Faktenfinder" oder den gleichgeschalteten medialen Opportunismus. Vernunft, Meinungsdiversität und Liberalität werden durch Haltung sowie Diskreditierung Andersdenkender ersetzt. Eine sehr bedenkliche Entwicklung.
