"Cancel Culture" - Was ist das eigentlich?
"Cancel Culture" taucht als Schlagwort in Debatten immer häufiger auf. Die einen beklagen sich darüber, die anderen behaupten Cancel Culture gebe es gar nicht.
Die "Harry Potter"-Autorin J.K. Rowling sorgt mit Tweets über Trans-Menschen immer wieder für Kontroversen. Mit "RIP J.K. Rowling"-Tweets wird dazu aufgerufen, sie zu Grabe zu tragen und ihre Bücher nicht mehr zu lesen. Kritiker werfen der Kabarettistin Lisa Eckhart vor, in einem Auftritt 2018 antisemitische Klischees bedient zu haben. Daraufhin wird sie vom Harbour Front Festival in Hamburg ausgeladen. Schauspieler werden aus Filmen, Gedichte von Hauswänden, Autoren aus Verlagsprogrammen und Autorinnen aus Debütanten-Salons entfernt. Auch in Deutschland taucht in den Diskussionen über diese Vorgänge verstärkt der Begriff "Cancel Culture" auf, was Streich- oder Abbruchkultur bedeutet.
Wie lässt sich "Cancel Culture" definieren?
"Cancel Culture" bezeichnet den Versuch, ein vermeintliches Fehlverhalten, beleidigende oder diskriminierende Aussagen oder Handlungen - häufig von Prominenten - öffentlich zu ächten. Es wird zu einem generellen Boykott dieser Personen aufgerufen.
"'Cancel Culture' - damit werde ich mich sicher noch auseinandersetzen, weil ich den Begriff sehr interessant finde", sagte die Kabarettistin Lisa Eckhart im August 2020 bei NDR Kultur, als ihre Ausladung vom Harbour Front Festival in Hamburg dazu führte, dass der Begriff in der öffentlichen Diskussion überall auftauchte. "Ich sehe die Culture - also die Kultur - in dem Begriff 'Cancel Culture' nicht als das Subjekt - also als eine Kultur, die cancelt - sondern als das Objekt. Nämlich, dass man teilweise bestrebt ist, Kultur als Ganzes zu canceln. Das ist nicht etwas, das ich einem politischen Lager zuordnen würde, sondern eine Tendenz, die man in vielem sieht", so Eckhart weiter.
"Cancel Culture" entstand 2014 - als Spaß
Und doch sind es auch die politischen Lager, die sich bei der Bestimmung des relativ jungen Internet-Phänomens gegenüberstehen. Es entstand zunächst auf Twitter. 2014 wurde in den USA vom "canceln" gesprochen, gemeint war das als Spaß: Über jemanden, mit dessen Meinung man nicht übereinstimmte, schrieb man "diese Person ist für mich gecancelt". Doch schnell wurde der Protest ernsthafter, moralischer, lauter. Marginalisierte Gruppen verschafften sich unter dem Hashtag #CancelCulture Gehör, fordern seitdem Verbote und Boykotts von Personen, die ihrer Ansicht nach Unrecht begangen haben. Sie beschreiben diese Entwicklung als einen demokratischen Vorgang, der vom Internet ausgeht.
Sieg der Gesinnung über rationale Urteilsfähigkeit?
Doch dieser Vorgang hat Film-Sets und Universitäten, Verlage und Buchhandlungen, den gesamten öffentlichen Raum erreicht. Dagegen richtet sich in Deutschland ein "Appell für freie Debattenräume", den der Journalist Milosz Matuschek 2020 veröffentlichte. Darin heißt es: "Wir erleben gerade einen Sieg der Gesinnung über rationale Urteilsfähigkeit. Nicht die besseren Argumente zählen, sondern zunehmend zur Schau gestellte Haltung und richtige Moral."
Gespenst oder ernsthafte Bedrohung?
Linke dagegen zweifeln, ob es die Verbotskultur wirklich gibt oder ob die, die sie beschwören, eher um den Verlust ihrer Meinungsführerschaft fürchten. So schreibt die Kolumnistin Margarete Stokowski bei "Spiegel Online": "Der Begriff 'Cancel Culture' ist im Grunde nur eine Umbenennung von "man darf ja wohl gar nichts mehr sagen", faktisch aber gefährlicher, weil ein gewaltbereiter, mächtiger Mob fantasiert wird."
Ist die "Kultur der Absagen" ein Gespenst, oder ist sie eine ernsthafte Bedrohung für jede Art von Debatte? Geht es um Wahrheit oder Zensur? Darüber diskutiert Deutschland - mit einem Begriff, der allerdings uneindeutig und schlecht abzugrenzen ist.