Stand: 29.09.2014 19:52 Uhr

Botschaft aus Prag

von Inga Bork, NDR 1 Radio MV

"Einen Scheißstaat verlassen, die Heimat verloren"

Ein Mann lehnt an einer Hauswand, auf der groß "Fuck it" geschrieben steht. © NDR
Als die DDR drohte, die Grenzen zur Tschechoslowakei abzuriegeln, wollte Lothar Kosz schnellstmöglich raus aus der DDR. Für immer.

Dabei ist Fotografieren Kosz' Leidenschaft und einer der Gründe, warum der Hobbyfotograf 1989 raus will aus der DDR: "Ständig sind meine Akt-Aufnahmen von den Rostocker Kulturgenossen zensiert worden, weil meine Fotos angeblich nicht den sozialistischen Realismus abbildeten. Ausstellungen des Fotoklubs 'Konkret' wurden deshalb sogar abgesagt", empört sich Kosz noch heute. "Verlassen habe ich einen Scheißstaat. Verloren aber habe ich meine Heimat. Ach, ich kann es nicht ausdrücken. Es tut alles so weh", schreibt Lothar in Prag. Adressiert ist sein Brief an seinen Fotofreund Siegfried Wittenburg, den Leiter des Warnemünder Fotoklubs "Konkret". Er hat Lothars Brief aus Prag 25 Jahre lang aufbewahrt.

30. September 1989: Geplante Ausweisung am Geburtstag

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Geblieben aus jenen Chaostagen ist auch noch eine Karteikarte aus Lothars Stasiakte, die er erst Jahre später gefunden hat. Darauf ordentlich vermerkt sein Name, das Datum seines dritten Ausreiseantrages und das Stichwort "Zustimmung zur Übersiedlung". "Danach sollte ich zum 30. September 1989 offiziell ausgewiesen werden aus der DDR!" Für Lothar Kosz der Witz der Geschichte: Denn an genau jenem Tag versprach der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher den 4.000 Prager Botschaftsflüchtlingen offiziell die Freiheit. Für Lothar der Tag seines Lebens, ist doch der 30. September auch sein Geburtstag.

Brief aus der Prager Botschaft - unvollendet

Lothar Krosz © NDR Foto: Inga Bork
P.S. Lothar Kosz lebt nach seiner Ausreise einige Jahre in Bremen und arbeitet heute in der Berliner Kulturszene als Fotograf.

Seinen Brief aus der Prager Botschaft hat Lothar Kosz erst kurz vor dem Mauerfall abgeschickt. Aus Bremen, seiner neuen Heimat im November 1989. Sein schriftliches Fazit: "Da sind erstaunlich viele Dinge aus der Zeit vor meiner Stunde Null, die mein Denken und Empfinden in der neuen Zeitrechnung nachhaltig bestimmen. Ja, meine 'Hinterlassenschaft' ist das Fragment eines Briefes, der, hätte ich noch die Zeit gefunden, sehr lang geworden wäre. Da bin ich 36 Jahre alt, habe nichts erreicht, wie Mama tränenerstickt sagt - und ich fühle mich sauwohl dabei. Fühlt Euch ganz lieb umarmt! Lothar".

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | 01.05.2014 | 19:05 Uhr

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