Sendedatum: 28.12.1993 19:00 Uhr

Das Schweigen der Opfer

Das zugewiesene Haus der Familie Büchner in Warnow-Hof bei Crivitz. © NDR
Dieser Hof bei Crivitz wird der Familie Büchner zugewiesen.

Tatsächlich landen die Büchners in Warnow-Hof bei Crivitz, östlich von Schwerin. Aber schon gleich nach ihrer Ankunft wird ihnen mitgeteilt, sie seien ab sofort nicht mehr Lehrer, sondern Genossenschaftsbauern und müssten in der Schweinemästerei arbeiten. Und das Haus, in das sie eingewiesen werden sollen? Das ist eine Katastrophe. "Es war unter aller Würde", erinnert sich Gretel Büchner, "es waren keine Fenster drin oder die Fenster waren zerschlagen und kaputt." Widerwillig ziehen sie in das Haus ein. "Wir sind die ganze Nacht wach geblieben, wir haben nicht schlafen können. Wir haben nur geweint, die ganze Nacht hindurch, bis zum Morgen", erinnert sich Gretel Büchner.

Vorladung und Verhaftung

Die Büchners haben keine Chance, in ihren alten Beruf zurückzukehren. Im Dezember 1961 wird Herbert Büchner zum Bezirksschulrat bestellt. "Mir wurden die Aufhebungsverträge vorgelegt, ich sollte unterschreiben. Und da habe ich gesagt: 'Nein!'", erzählt er. Er darf wieder gehen, wird jedoch wenige Tage später beim Ministerium für Staatssicherheit in Schwerin vorgeladen. Dort wird er noch einmal gefragt, ob er bereit sei, die Aufhebungsverträge zu unterschreiben. Weil er sich weigert, wird er in eine Zelle gebracht. "Man hörte immer die Schritte der Wachleute. Ich saß stundenlang da, und irgendwann fiel mir ein: In drei Tagen ist Heiligabend, und du bist nicht zu Hause und nicht bei deiner Frau und deinen Kindern ..."

Am nächsten Tag unterschreibt Herbert Büchner das, was der Kreisschulrat schon längst abgesegnet hat: "Im gegenseitigen Einvernehmen lösen wir mit Wirkung vom 31.12.61 das bestehende Arbeitsrechtsverhältnis. Grund: Der Kollege Büchner ist nicht mehr im Kreise Ludwigslust wohnhaft, und nach seinen Angaben fühlt er sich den erhöhten Anforderungen, die unsere sozialistische Schule an den Lehrer und Erzieher stellt, nicht mehr gewachsen." Stattdessen muss er eine Stelle als Buchhalter annehmen. Gretel Büchner, die ebenfalls ihren Aufhebungsvertrag unterschreibt, erhält einen Job als Verkäuferin.

13 Spitzel, rund um die Uhr

Der Druck auf die Büchners allerdings, er lässt nicht nach. Die Anweisungen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gelten ohne Einschränkung und das Ehepaar befolgt sie brav in den ersten Jahren nach der Zwangsaussiedlung: keine Teilnahme an öffentlichen, auch nicht kulturellen Veranstaltungen, keine Äußerungen zur Aussiedlung und keine Angaben zum Berufswechsel. Die Legende ist simpel: Herbert Büchner habe seine Tätigkeit als Lehrer aus Krankheitsgründen aufgeben müssen und sei nur deshalb mit seiner Familie nach Crivitz gezogen.

Je länger die Büchners in Crivitz leben und arbeiten, umso häufiger werden sie angesprochen und nach ihrer Herkunft gefragt. Aber sie halten sich an alle Auflagen, sie gehen nicht zu Tanzveranstaltungen, sie betätigen sich auch sonst nicht öffentlich. Sie schweigen. Die Staatssicherheit ist über alles im Bilde. Die Büchners erzählen: "Aus unseren Akten wissen wir heute, dass wir hier insgesamt dreizehn Inoffizielle Mitarbeiter hatten, die uns von 1961 an rund um die Uhr beschattet haben. Das MfS hat selbst einen aus dem Raum Lenzen Zwangsdeportierten auf uns angesetzt. Und mit dem hatten wir uns angefreundet damals. Und der hat dann lange Zeit nur darüber berichtet, welche Fernsehprogramme wir eingeschaltet und angesehen haben."

Erst mit der Mauer fällt die Angst

Das gilt bis etwa 1970, dann wollen die Büchners nicht länger schweigen. Im allerengsten Freundes- und Familienkreis reden sie über die Zwangsaussiedlung und über das Berufsverbot. Sie gehen wieder tanzen und lassen sich in der Öffentlichkeit sehen. "Wir haben uns einfach gesagt, jetzt müssen wir da durch!", sagen sie. Doch erst, nachdem Mauer und Stacheldraht gefallen sind, erzählen Gretel und Herbert Büchner ihre Lebensgeschichte ganz und ohne Lücken: öffentlich, laut und deutlich und zum ersten Mal ohne Angst.

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Das Schweigen der Opfer - Originalversion

Die ungekürzte Fassung des Textes aus der Reihe "Erinnerungen für die Zukunft" von NDR 1 Radio MV. Download (188 KB)

 

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | 28.12.1993 | 19:00 Uhr

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