Marianne Bachmeier verlässt nach der Urteilsverkündung am 2. März 1983 den Gerichtssaal. © picture-alliance / dpa Foto: Wulf Pfeiffer
Marianne Bachmeier verlässt nach der Urteilsverkündung am 2. März 1983 den Gerichtssaal. © picture-alliance / dpa Foto: Wulf Pfeiffer
Marianne Bachmeier verlässt nach der Urteilsverkündung am 2. März 1983 den Gerichtssaal. © picture-alliance / dpa Foto: Wulf Pfeiffer
AUDIO: Selbstjustiz: Der Fall Bachmeier (2 Min)

Der Fall Marianne Bachmeier: Selbstjustiz einer Mutter

Stand: 02.03.2023 05:00 Uhr

In einem Lübecker Gerichtssaal erschießt Marianne Bachmeier am 6. März 1981 den mutmaßlichen Mörder ihrer Tochter Anna. Der Akt der Selbstjustiz schreibt Rechtsgeschichte. Am 2. März 1983 wird sie wegen Totschlags verurteilt.

von Irene Altenmüller

Lübeck, 6. März 1981, kurz vor 10 Uhr. Es ist der dritte Prozesstag im Mordfall um die siebenjährige Anna, die am 5. Mai 1980 erwürgt wurde. Der mutmaßliche Täter, Klaus Grabowski, ist ein vorbestrafter Sexualstraftäter und hat den Mord bereits gestanden. Er sitzt in Saal 157 des Lübecker Landgerichts, als sich von hinten Marianne Bachmeier nähert - Annas Mutter. Sie zieht eine Beretta, Kaliber 22, aus ihrer weiten Manteltasche, zielt auf Grabowskis Rücken und drückt acht Mal ab. Sechs Schüsse treffen. Der 35-jährige Fleischer stirbt noch im Gerichtssaal. "Ich wollte ihm ins Gesicht schießen. Leider habe ich ihn in den Rücken getroffen. Hoffentlich ist er tot", sagt Marianne Bachmeier kurz nach der Tat. Die 30-Jährige lässt sich widerstandslos festnehmen.

Knapp zwei Jahre später steht sie selbst in Lübeck vor Gericht. Die Richter müssen entscheiden: War Marianne Bachmeiers Racheakt Mord oder Totschlag? Am 2. März 1983 verurteilt das Gericht Marianne Bachmeier wegen Totschlags und unerlaubten Waffenbesitzes zu sechs Jahren Haft.

Marianne Bachmeiers Tat spaltet die öffentliche Meinung

Das Urteil setzt den juristischen Schlusspunkt hinter einen Kriminalfall, der die Gemüter lange bewegt hat. Marianne Bachmeiers Racheakt ist bis heute der vielleicht spektakulärste Fall von Selbstjustiz in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Viele Menschen äußern damals offen ihr Verständnis für die Tat und sehen in ihr vor allem den Verzweiflungsakt einer trauernden Mutter. Andere halten eine strenge Bestrafung für angebracht, um den Rechtsstaat und sein Gewaltmonopol vor Akten der Selbstjustiz zu schützen.

Eine Lebensgeschichte als "Stern"-Serie

Zuschauer des Prozesses gegen Marianne Bachmeier in Lübeck halten am 16. Dezember 1982 das "Stern"-Buch "Annas Mutter" in den Händen. © picture alliance / Werner Baum Foto: Werner Baum
Erst als Serie im Blatt, dann auch als Buch: Für rund 250.000 DM verkaufte Marianne Bachmeier ihre Geschichte dem "Stern".

Nach ihrer Tat steht Marianne Bachmeier schlagartig im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Für 250.000 Mark verkauft die 30-Jährige ihre Lebensgeschichte an das Magazin "Stern", der Reporter Heiko Gebhardt darf sie während der Untersuchungshaft besuchen. Mit dem Honorar deckt sie ihre Anwaltskosten, denn im November 1982 beginnt der Prozess gegen sie.

In 13 Folgen erfahren die Leser Details aus Mariannes unglücklicher Kindheit und Jugend in einem streng gläubigen Elternhaus mit einem autoritären Vater, einem ehemaligen Mitglied der Waffen-SS. Marianne ist mit 16 Jahren zum ersten Mal schwanger und erwartet mit 18 erneut ein Kind. Beide Töchter gibt sie zur Adoption frei. Kurz vor der Geburt der zweiten Tochter wird sie vergewaltigt. Als 1973 ihre dritte Tochter Anna zur Welt kommt, behält die damals 23-Jährige das Kind bei sich.

5. Mai 1980: Anna Bachmeier wird ermordet

Annas Grab in Lübeck © picture-alliance / dpa Foto: Wulf Pfeiffer
Annas Grab auf dem Lübecker Friedhof. Seit 1996 ist dort auch ihre Mutter begraben.

Die kleine Anna ist ein fröhliches, aufgeschlossenes Kind, erinnern sich Freunde später. Sie wächst bei ihrer Mutter auf, die in Lübeck eine Kneipe betreibt. An dem verhängnisvollen 5. Mai 1980 schwänzt die Siebenjährige nach einem Streit mit der Mutter die Schule und fällt Klaus Grabowski in die Hände. Der 35-Jährige ist wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern vorbestraft, war in der Psychiatrie und ließ sich freiwillig kastrieren. Später unterzog er sich - mit gerichtlicher Genehmigung - einer Hormonbehandlung, die seinen Sexualtrieb wiederherstellte. Grabowski hält Anna stundenlang in seiner Wohnung gefangen und erwürgt sie mit einer Strumpfhose. Ob er das Mädchen zuvor missbrauchte oder nicht, wird nie geklärt.

Der mutmaßliche Täter wird verhaftet

Annas Leiche verscharrt er in einem Karton am Ufer eines Kanals. Noch am selben Abend wird er nach einem Hinweis seiner Verlobten verhaftet. Er gesteht den Mord, streitet aber ab, das Mädchen missbraucht zu haben. Stattdessen erklärt er der Polizei, Anna habe versucht, ihn zu erpressen: Sie habe gedroht, ihrer Mutter zu erzählen, er habe sie sexuell belästigt, wenn er ihr kein Geld gebe. Aus Angst, wieder ins Gefängnis zu müssen, habe er sie schließlich erdrosselt.

Möglicherweise sind es gerade diese Behauptungen, die Grabowski später den Tod bringen. Denn Marianne Bachmeier fühlt sich durch seine Worte schwer gekränkt. Sie wird ihre Tat später unter anderem damit begründen, dass sie Grabowski daran hindern wollte, das Ansehen ihrer Tochter zu schädigen: "Ich hörte, er will eine Aussage machen. Ich dachte, jetzt kommt die nächste Lüge über dieses Opfer, das mein Kind war", erklärt sie später ihn einem Interview.

Marianne Bachmeier im Rampenlicht

Marianne Bachmeier umringt von Fotografen am ersten Prozesstag 1982 © picture-alliance / dpa Foto: Cornelia Gus
Knapp ein Jahr nach dem Tod ihrer siebenjährigen Tochter erschießt Marianne Bachmeier den mutmaßlichen Mörder in einem Lübecker Gerichtssaal. Ab dem 2. November 1982 muss sie sich selbst wegen Mordes vor Gericht verantworten.

Am 2. November 1982 beginnt der Prozess gegen Marianne Bachmeier. Die Anklage lautet zunächst auf Mord, später auf Totschlag. Das Verfahren zieht immense öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. Viele geben der Justiz eine Mitschuld an der Tat, weil sie einem Mann, der bereits zwei Mädchen missbrauchte, erlaubte, mit Hormonen seinen Sexualtrieb wieder herzustellen. Andere werfen Marianne Bachmeier vor, Anna vernachlässigt zu haben und zweifeln an der Glaubwürdigkeit ihrer Trauer. Wieder andere bekunden offen ihre Sympathie für den Racheakt.

Heimtückischer Mord oder Totschlag im Affekt?

Marianne Bachmeier im Jahre 1995 © picture-alliance / dpa Foto: Klaus Franke
Marianne Bachmeier ein Jahr vor ihrem Tod. 1985 war sie vorzeitig aus der Haft entlassen worden.

In dieser aufgeheizten Stimmung muss das Gericht entscheiden, ob Marianne Bachmeier Mord oder Totschlag beging. Hat sie aus Heimtücke oder im Affekt geschossen? Hatte sie die Waffe im Gerichtssaal tatsächlich deswegen dabei, weil sie sich selbst bedroht fühlte? Oder doch eher, weil sie sich rächen wollte - an dem Mann, der ihr Kind tötete?

Mit seiner Verurteilung wegen Totschlags und unerlaubten Waffenbesitzes folgt das Gericht am 2. März 1983 weitgehend dem Argument der Verteidigung, die Tat sei nicht geplant gewesen. Im Juni 1985 kommt sie vorzeitig frei, heiratet und verlässt Deutschland. Bis 1990 lebt sie mit ihrem Mann in Nigeria. Nach der Scheidung zieht sie nach Sizilien und arbeitet in Palermo als Sterbehelferin in einem Hospiz.

Marianne Bachmeier stirbt unter den Augen der Öffentlichkeit

1996 erkrankt Marianne Bachmeier unheilbar an Bauchspeicheldrüsenkrebs und kehrt nach Deutschland zurück. Am 17. September 1996 stirbt sie im Alter von 46 Jahren. Sie wird an der Seite ihrer Tochter Anna auf dem Lübecker Burgtorfriedhof beerdigt. Sie selbst hatte sich eine Beisetzung in Palermo gewünscht.

Szene aus der Verfilmung "Das langsame Sterben der Marianne Bachmeier". © dpa
Sterben als Film: Marianne Bachmeier ließ ihre letzten Lebenswochen von einem Dokumentarfilmer festhalten.

Ihre letzten Lebenswochen ließ Marianne Bachmeier auf eigenen Wunsch von dem NDR Reporter Lukas Maria Böhmer filmisch dokumentieren. Dass sie ihr Sterben öffentlich machte, zeigt die kompromisslose Konsequenz, mit der Marianne Bachmeier seit ihrer Tat immer wieder die Aufmerksamkeit und Anteilnahme der Öffentlichkeit an ihrem Schicksal suchte. Dieses Bedürfnis nach medialer Zuwendung blieb bis zu ihrem Tod bestehen - auch, als das öffentliche Interesse an ihrer Person längst abgeebbt war.

Rückschau: War die Tat doch geplant?

Jahre nach der Tat spricht vieles dafür, dass Marianne Bachmeier, anders als im Prozess behauptet, ihre Rache lange geplant hatte. So erklärte sie selbst 1995 in der ARD-Talkshow "Fliege", dass sie den mutmaßlichen Mörder ihrer Tochter nach reiflicher Überlegung erschossen habe - um ihn zu richten und um zu verhindern, dass er weiter Unwahrheiten über Anna verbreite. In einer ARD-Dokumentation von 2006 erzählte eine frühere Freundin zudem, dass Marianne Bachmeier nach dem Mord an Anna im Keller unter ihrer Kneipe schießen geübt habe. Ihre Rachetat hat Marianne Bachmeier nie öffentlich bereut.

Weitere Informationen
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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | 05.03.2021 | 21:45 Uhr

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