Stand: 01.06.2017 21:15 Uhr

Zufallsfund: Film von Ohnesorg-Beerdigung entdeckt

von Ole Lerch

Die runden Filmdosen sind verstaubt, verrostet, teilweise verschimmelt. Sie lagern in einer Garage in Hannover, werden nur durch Zufall gefunden, nachdem die Garage nach dem Tod des Besitzers entrümpelt werden muss. Über Umwege erfährt Peter Stettner, geschäftsführender Direktor des Filminstituts der Fachhochschule Hannover, von der Existenz der Filmrollen. Stettner, immer auf der Suche nach historischem Filmmaterial aus Hannover und Niedersachsen, hat beim Anblick der vergammelten Filmdosen wenig Hoffnung, etwas Brauchbares für sein Archiv gefunden zu haben. Doch der erste Eindruck täuscht: Nachdem er und seine Mitarbeiter die verdreckten Filmrollen gereinigt und genauer unter die Lupe genommen haben, wird ihnen schnell klar, dass die Bilder von großer zeitgeschichtlicher Bedeutung sind - für Hannover, aber auch für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

7.000 Studenten beim Trauermarsch

Der Film zeigt Aufnahmen von der Beisetzung des Studenten Benno Ohnesorg auf dem Friedhof im hannoverschen Stadtteil Bothfeld am 9. Juni 1967. Außerdem zeigen die Bilder einen Trauermarsch von 7.000 Studenten durch die Innenstadt von Hannover und eine Versammlung am selben Abend in der Stadionsporthalle. Insgesamt mehr als 20 Minuten lang ist das Filmmaterial. "Die Bilder machen deutlich, wie umfangreich die Demo mit 7.000 Studenten aus ganz Deutschland war. Sie zeigen auch, wie groß die moralische Empörung war. Für die weitere Entwicklung der Studentenbewegung hat dies eine große Bedeutung gehabt: sowohl der 2. Juni in Berlin, aber auch dieser Tag der Beerdigung von Benno Ohnesorg in Hannover", sagt Stettner.

Der Tod des Benno Ohnesorg

Bis heute gelten die Umstände des Todes von Benno Ohnesorg als nicht gänzlich geklärt, und gegen die Polizei stehen Vorwürfe der Vertuschung im Raum. Der Todesschütze, der Polizeibeamte Karl-Heinz Kurras, wurde 1967 wegen fahrlässiger Tötung angeklagt und schließlich aus Mangel an Beweisen freigesprochen. 2009 kam heraus, dass Kurras jahrelang als Spion für die DDR gearbeitet hatte. Es wurde vermutet, er könne Ohnesorg im Auftrag Ostberlins getötet haben - bewiesen wurde diese Theorie bis heute nicht. Im Dezember 2014 starb Kurras im Alter von 87 Jahren in Berlin.

Geburtsstunde der Studentenbewegung

Rückblick: Am 2. Juni 1967 demonstrieren in Berlin Tausende gegen den Besuch des Schahs von Persien, unter ihnen viele Studenten. Im Verlauf der Demonstration kommt es zu heftigen Zusammenstößen von Anhängern des Schahs mit Demonstranten. Die Polizei bringt Wasserwerfer zum Einsatz und geht auch immer wieder mit Schlagstöcken gegen einzelne Studenten und Gruppen vor. In dieser chaotischen Situation fällt ein Schuss. Der 26-jährige Ohnesorg, geboren und aufgewachsen in Hannover, wird durch die Waffe des Polizeibeamten Karl-Heinz Kurras, in den Kopf getroffen. Er stirbt kurze Zeit später. Fünf Tage später, am 9. Juni 1967, wird Ohnesorg in Hannover beigesetzt. Der Tod Ohnesorgs gilt bis heute als Geburtsstunde der Studentenbewegung.

Wenige bewegte Bilder

Wer die Aufnahmen in Hannover gemacht hat, ist nicht bekannt. Möglicherweise Studenten eines Film-Clubs der Universität, vermutet Stettner. Die Filmrolle mit den Bildern vom Tag der Beerdigung sind ein so bedeutender Fund, weil es bislang über die Geschichte Hannovers nur wenige bewegte Bilder gibt. Zwar gibt es einige Dokumentationen über den Wiederaufbau der Stadt nach dem Krieg, den Zoo, den U-Bahn-Bau, doch nur wenig Filmmaterial über die politische Entwicklung der Stadt insbesondere in den 1960er- und 70er-Jahren.

Nicht nur politische Dimensionen

Für Stettner neben der politischen Dimension obendrein interessant: Wie sahen die Studenten im Juni 1967 aus? Welche Kleidung, Frisuren waren angesagt? Die Bilder offenbaren: Die Kleidung ist noch geprägt vom Stil der 1960er-Jahre. Fast alle Frauen tragen Röcke, die meisten Männer Anzüge. Von gängigen Klischees über langhaarige, bärtige Studenten und hosentragenden Studentinnen sind die Teilnehmer des Schweigemarsches noch weit entfernt. "In der Zeit zwischen 1967 und 1970 hat sich da sehr viel verändert. All das sind für uns interessante Details aus dem Alltag dieser Zeit, die die Kamera damals gar nicht vordergründig darstellen wollte", so Stettner.

Veranstaltung zum Jahrestag

Die Filmrolle aus der Garage hat Stettner mittlerweile digitalisieren lassen. Original und Kopie werden im Filminstitut der Fachhochschule Hannover archiviert, damit das gesamte Filmmaterial über die Beisetzung für die Nachwelt erhalten bleibt und immer wieder auch öffentlich präsentiert werden kann - etwa am Freitag im Historischen Museum in Hannover. Ab 18 Uhr wird dort mit den Zeitzeugen Alfred Krovoza und Gerd Weiberg über die Umstände des Todes von Ohnesorg, die Überführung des Leichnams durch die DDR, die Trauerdemonstration und den sich anschließenden Kongress der Außerparlamentarischen Opposition (APO) in Hannover gesprochen und diskutiert.

Weitere Informationen gibt es auf der Seite der Hochschule Hannover.

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Hallo Niedersachsen | 01.06.2017 | 19:30 Uhr

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