Erprobungsstelle der Deutschen Luftwaffe in Rechlin © Luftfahrttechnisches Museum Rechlin Foto: unbekannt

Rechlin: Wo die deutsche Luftwaffe geboren wurde

Stand: 14.10.2016 20:32 Uhr

1916 entstand in Rechlin eine Luftfahrt-Erprobungsstelle. Sie entwickelte sich zur wichtigsten im "Dritten Reich". Modernste Flugzeuge wurden dort getestet. Später wurden dort Boote gebaut.

von Henning Strüber, NDR 1 Radio MV

Heutzutage ist über die bewegte Geschichte buchstäblich Gras gewachsen, die 1916 am Südostufer der Müritz ihren Anfang nahm. In Rechlin entstand damals die Luftfahrt-Erprobungsstelle. Sichtbare Spuren davon sind fast nicht mehr zu sehen. Nur die Start- und Landebahn ist geblieben, von dem heute Hobby-Piloten zu ihren Rundflügen aufbrechen. Am Rande des riesigen Areals steht das Luftfahrtechnische Museum, in dem die bewegte Geschichte des Ortes dokumentiert ist. "Rechlin war rückblickend gewissermaßen der Geburtsort der deutschen Luftwaffe", sagt Torsten Heinrichs vom Förderverein des Museums.

Rechlin wird am Reißbrett neu entworfen

Es beginnt im Herbst 1916, als das Kriegsministerium in Berlin die Errichtung von "flugtechnischen Anlagen am Müritzsee" beabsichtigt. Es folgen Käufe und Enteignungen von rund 1.400 Hektar Land. "Rechlin bestand damals nur aus einem Gutshof, einer Kirche und ein oder zwei Schnitterkasernen", so Heinrichs. "Die Gegend war infrastrukturell unterentwickelt. Alles war landwirtschaftlich geprägt. Industrie gab es gar nicht." Der Ort Rechlin wurde am Reißbrett quasi neu entworfen, um genügend Wohnungen, Pisten und Hallen für Personal und Geräte zu haben.

Gründung und Dornröschenschlaf an der Müritz

Am 29. August 1918 erfolgt die Gründung der Fliegerischen Versuchsanstalt durch den Großherzog Friedrich-Franz von Mecklenburg-Schwerin. Das Kriegsministerium verlegt die in den Anfängen steckende Flugzeugerprobung von Adlershof bei Berlin an die Müritz. Fortan sollen dort die Eigenschaften der neuen Doppeldecker etwa beim Steilflug, beim Kurvenflug und beim Rollen untersucht werden. Auch ein Prototyp der legendären, in den Schweriner Fokker-Werke entwickelten Fokker D VII wird dort auf Herz und Nieren getestet.

Doch bevor die Flugzeugerprobung so richtig auf Touren kommt, durchkreuzt der Verlauf des Ersten Weltkrieges die hochtrabenden Pläne. Nur drei Monate nachdem alles angefangen hatte, ist es schon wieder vorbei. Das Deutsche Reich hat den Krieg verloren und der Versailler Vertrag verbietet praktisch eine deutsche Luftwaffe. Die Erprobungsstelle wird nutzlos. "Das, was hier bereits an Flugzeughallen stand, wurde zurückgebaut. Rechlin verfiel in einen Dornröschenschlaf", so Heinrichs.

Geheime Aufrüstung der deutschen Luftwaffe

Statt in Rechlin betreibt Deutschland seine militärische Fliegerei seit 1922 im russischen Lipetsk. Darauf hatten sich das Deutsche Reich und die Sowjetunion im Vertrag von Rapallo geeinigt - und so den Versailler Vertrag heimlich unterlaufen. "Die deutschen Flieger dort firmierten als Abteilung der Roten Armee. Denn offiziell gab es ja keine deutsche Luftwaffe", sagt Heinrichs. Es dauert bis 1926, ehe am Südostufer der Müritz wieder Flugzeuge abheben und neue Gebäude errichtet werden - versteckt hinter aufgemalten Häuserwänden und unter Tarnnetzen.

Unter dem Deckmantel des Schweigens hatte im Reichskriegsministerium eine "Abteilung M" das Vorhaben vorangetrieben. "Das hört sich sehr nach 007 an, aber es war wirklich so", sagt Heinrichs. Alles unterlag großer Geheimhaltung. Die Abgeschiedenheit des Ortes kam dem entgegen. "Es gab nur Feldwege, keine Straßen." Den Testpiloten wurde eine Bahnfahrkarte nach Neustrelitz in die Hand gedrückt. Den Namen Rechlin kannten die wenigsten.

Rechlin wird zur bedeutendsten Erprobungsstelle Nazi-Deutschlands

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 beginnt in Rechlin eine rasante Entwicklung. "Alles hier wurde wiederbelebt und noch größer und noch schneller aufgezogen", so Heinrichs. Der Wiesenpiste in der mecklenburgischen Provinz kommt in den Aufrüstungsplänen der Nationalsozialisten eine besondere Bedeutung zu. "Millionen Reichsmark werden in die Anlage gesteckt." Die Rasenpisten in Lärz werden asphaltiert.

In vier himmelsrichtungsmäßig um das Flugfeld angeordneten Teilbereichen werden Motorenprüfstände, Brennstofflabors, Werfthallen, Garagen, Büros, Unterkünfte und Kasernen aus dem Boden gestampft. 190 Hektar des 150 Quadratkilometer großen Geländes sind von Gebäuden belegt. Über 4.000 Ingenieure, Testpiloten und Angestellte aus dem ganzen Reichsgebiet kommen an die Müritz. Die Neuankömmlinge werden mit Häusern, Vergünstigungen und der Müritz als Naherholungsgebiet gelockt. Rechlin wird zur wichtigsten Lufterprobungsstelle ihrer Art. Aber auch Zwangsarbeiter und Häftlinge aus dem nahe gelegenen KZ-Außenlager Retzow schuften ab 1944 an den Start- und Landebahnen. Von mehr als 3.000 Frauen überleben nur 200.

Bahnbrechende Neuentwicklungen an der Müritz getestet

Neu entwickelte Prototypen und Vorserienmuster von Kampfflugzeugen, Aufklärern, Jagdeinsitzern, Sturzkampfbombern, Schulflugzeugen und Langstreckenbombern werden in Rechlin erprobt, verglichen und verbessert. Kinderkrankheiten sollen ausgemerzt werden, bevor die neuen Waffen in Serienproduktion gehen. "Bis zu 300 verschiedene Flugzeuge waren teilweise gleichzeitig in Rechlin stationiert", sagt Heinrichs. Darunter Maschinen wie die in großer Stückzahl hergestellte Messerschmidt Bf 109, die Ju-88, aber später auch flüssigkeitsraketen- und strahlgetriebene Jets wie die He-176, die He-178 sowie die Me 262. Auch das mit 770 km/h Spitzengeschwindigkeit schnellste Propellerflugzeug der Luftfahrtgeschichte, die Dornier Do 335, hat im Oktober 1943 in Rechlin ihren Erstflug. Das heute letzte Exemplar wird am 23. April 1945 nach einem turbulenten Flug von Rechlin über Prag ins bayerische Oberpfaffenhofen von amerikanischen Soldaten erbeutet und in die USA gebracht.

Heinz Rühmann und Beate Uhse in Rechlin

Reichsluftfahrtminister Hermann Göring ist häufiger Gast bei Vorführungen und Einweihungen. "Interessant für Göring waren auch die Beuteflugzeuge, die hier begutachtet wurden", so Heinrichs. Aber auch andere Prominenz kommt nach Rechlin. Die Pilotin und spätere Erotik-Unternehmerin Beate Uhse soll hierhin Überführungsflüge unternommen haben, die Schwägerin des Hitler-Attentäters, Melitta von Stauffenberg, testet Zielgeräte für Sturzflugvisiere und der berühmte Schauspieler Heinz Rühmann erhält in Rechlin seine militärische Grundausbildung. Dass hier auch Szenen des Rühmann-Films "Quax, der Bruchpilot" gedreht wurden, ist dagegen wohl nur ein Gerücht.

Erster Schleudersitz-Einsatz der Geschichte

Die "He 178", das erste Düsenflugzeug der Welt. © dpa - Bildarchiv Foto: dpa
Modernste Maschinen wie die He 178 werden an der Müritz getestet.

Aber es werden auch Waffen getestet, Bombenabwürfe durchgeführt, Antriebsverfahren optimiert und Ausrüstungen weiterentwickelt. Manche Ergebnisse der Erprobungen und Entwicklungen der Ingenieure beeinflussen die Luftfahrttechnik bis heute. So kommt es 1943 in Rechlin zum ersten Schleudersitz-Einsatz der Luftfahrtgeschichte. Aber auch das heute noch standardmäßige Ausfahren des Fahrwerks mittels Hydraulik ist nach langen Tests an der Müritz entwickelt worden. Zudem werden auf dem Gebiet der Forschung an Druckkabinen in Rechlin Grundlagen gelegt.

Luftwaffe: Draufgänger auf Himmelfahrtskommandos

Insbesondere seit Kriegsbeginn wird auf der E-Stelle unter Hochdruck gearbeitet. Die vielversprechenden Neuentwicklungen müssen schnellstmöglich zur Serienreife gebracht werden, um den für die Deutschen ungünstigen Kriegsverlauf noch zu beeinflussen. Gerade gegen Ende des Krieges ruhen die Hoffnungen auf so mancher vermeintlichen "Wunderwaffe", die an der Müritz getestet wird. Die Erprobungszeiten wurden immer kürzer, immer häufiger stürzen Maschinen wegen technischer Unzulänglichkeiten ab. Testflüge sind nicht selten wie Himmelfahrtskommandos, in den Kanzeln sind echte Draufgänger gefragt. "Das Risiko war immens hoch", sagt Heinrichs. Mehr als 300 Testpiloten stürzen mit ihren Maschinen vom Himmel und finden den Tod. Einzelheiten zu ihren Schicksalen sind laut Heinrichs schwer herauszufinden, weil viele Unterlagen vernichtet worden sind. In der Endphase des Krieges wird aus den in Rechlin stationierten Maschinen eine Einheit gebildet, die noch in den aussichtslosen Kampf gegen die alliierte Übermacht geschickt wird.

Amerikanische Bomben legen Rechlin in Trümmer

Ein massiver Bombenangriff der Amerikaner verwandelt die E-Stelle im April 1945 in ein Trümmerfeld. Der Betrieb kommt schlagartig zum Erliegen. Nach Kriegsende übernehmen die Sowjets Rechlin und demontieren die noch brauchbaren Überreste. Die Sowjets stationieren Schlachtflieger, Jagdbomber und später Kampfhubschrauber auf dem Flugplatz in Rechlin/Lärz. Auch ein Depot für die Lagerung von atomaren Sprengköpfen wird erbaut. In die alten Wohnsiedlungen in Rechlin ziehen rund 4.000 Rotarmisten und deren Angehörige ein.

DDR: In Rechlin wird das schnellste Boot der Ostsee gebaut

Bootswerft Rechlin © Luftfahrttechnisches Museum Rechlin Foto: unbekannt
Die auf der Schiffswerft gebauten Boote erfreuen sich vieler Freunde - insbesondere das Ruderboot "Anka".

Ein Teil des Areals wird freigegeben. Dort entsteht 1948 der Volkseigene Betrieb (VEB) Schiffswerft Rechlin. "Doch dort beschäftigte sich man zunächst mit dem Bau von Ackergeräten und der Reparatur von Häusern." Statt zerstörerische High-Tech-Waffen zu produzieren, gilt es nach dem Krieg zunächst, die elementaren Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen. In den Folgejahren stellt die Werft Rettungs- und Torpedoboote sowie Ausrüstungen her. "Schiffbau und Flugzeugbau sind gar nicht so weit voneinander entfernt", sagt Heinrichs. Das 19 Meter lange Kleine Torpedoschnellboot (KTS) mit dem NATO-Code "Libelle" wird mit einer Spitzengeschwindigkeit von 110 km/h das schnellste Boot, das jemals über die Ostsee pflügt. Die in Rechlin gefertigten Schiffskörper müssen per Landtransport auf die Peene-Werft nach Wolgast gebracht werden - "eine logistische Meisterleistung", sagt Heinrichs. Zum Verkaufsschlager wird allerdings das Ruderboot "Anka".

Schiffswerft Rechlin geht nach der Wende Konkurs

Heinrichs kommt 1989 vom Studium in Rostock zurück nach Rechlin, um als Konstrukteur auf der Schiffswerft zu arbeiten. Er erlebt die Zeitenwende hautnah mit. Die Werft mit ihren 1.100 Beschäftigten erleidet "Schlagseite", sie wird von der Treuhand privatisiert. "Dabei sind viele Fehler gemacht worden“, meint Heinrichs. Bis 1996 wird der Schiffbau in Einzelbereichen weitergeführt, dann erfolgt der Konkurs. Ein Produzent von Rettungsbooten und -ausrüstung siedelt sich an. "Heute werden hier keine Boote mehr gebaut", so Heinrichs.

Neben Berlin der einzige Ort, den eine Mauer teilt

Doch das Klima der Veränderung wirkt sich auf das Zusammenleben im Ort aus. Nach ihrem Einzug hatte die sowjetische Armee eine Mauer wie "einen geraden Strich" durch den Ort gezogen. "Nach Berlin ist Rechlin wahrscheinlich der einzige Ort, den eine Mauer strikt teilte", sagt Heinrichs. Von gelegentlichen Besuchen im bei den Rechlinern hoch im Kurs stehenden "Russen-Magazin" hält die Betonmauer die Einheimischen dennoch nicht ab. Heinrichs erinnert sich, wie er hin und wieder durch ein Schlupfloch der anderen Seite einen Besuch abstattete. "Wir sind dann immer durchgekrochen und haben Apfelsinen gekauft oder russisches Konfekt." Dies war zwar verboten, aber wenn einen der sowjetische Posten erwischte und am Ausgang dem sogenannten Abschnittsbevollmächtigten übergab, hieß es nur "Du Du" und der Zeigefinger wurde leicht gehoben.

Aus Besatzern werden Freunde

In den 1990er-Jahren entspannt sich das Verhältnis zwischen Armisten und Einhemischen weiter. "Auf einmal haben sich Menschen aus zwei Nationen angeguckt und Gemeinsamkeiten gesehen", sagt Heinrichs. Die Sowjets helfen der Werft in kalten Wintern auf dem kurzen Dienstweg mit Brennstoffen. Im örtlichen Volleyballverein spielen zwei sowjetische Luftwaffen-Offiziere mit. Beim Abzug der sowjetischen Streitkräfte am 22. März 1993 ist der Flugplatz in Lärz voll mit Bussen, Schulklassen und Einwohnern. "Die Verabschiedung war sehr bewegend", erinnert sich Heinrichs. Auf einer Schautafel an einem verbliebenen Mauerstück steht noch heute: "Sie kamen als Besatzer. Sie gingen als Freunde." Heute ist das Militär von dem Gelände verschwunden. In die Flugzeugbunker an der Startbahn pilgern alljährlich Zehntausende Techno- und Kulturinteressierte beim Fusion Festival.

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NDR 1 Radio MV | 16.10.2016 | 19:30 Uhr

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