Stand: 21.01.2015 09:40 Uhr

Der Streit um das Abendlied

von Lenore Lötsch
Matthias Claudius (Holzstich 1890) © picture-alliance / akg-images Foto: akg-images
Vor 200 Jahren starb der Dichter Matthias Claudius.

Er hat es bis in den Weltraum geschafft, der Dichter Matthias Claudius, der vor 200 Jahren starb. Der Kleinplanet 7117 trägt seinen Namen. Auf der Erde aber hat er es schwer: Wer nach dem Dichter Claudius fragt, erntet zumeist Schulterzucken. Die Zeile "Der Mond ist aufgegangen" allerdings, die kennt man.

Das Abendlied ist immer noch das populärste Gedicht aus der Feder von Matthias Claudius. Aber wo ist es entstanden? An Vorschlägen mangelt es nicht.

Emkendorf war zu spät

Der Norden gibt sich siegessicher: Das Gut Emkendorf in Schleswig-Holstein wirbt damit, ein Hof der Geschichte, Kunst und Kultur zu sein. Und wirklich: Matthias Claudius war hier. Im romantischen Landschaftspark philosophierte der Dichter mit Klopstock, Lavater und Voß im Emkendorfer Kreis.

Ein kleiner Herbstmarkt auf dem Guthofs Emkendorf. © NDR Foto: Frank Hajasch
Claudius besuchte das Gut Emkendorf. Das Abendlied entstand hier aber nicht.

Der Literaturwissenschaftler Reinhard Görisch mimt jedoch den Spielverderber: "Der Park ist so, dass man sich das gut vorstellen könnte. Und die Emkendorfer haben 1979 auch eine Feierstunde mit 200 Jahre Abendlied gemacht. Aber: Das Abendlied ist im Herbst 1778 im Voßschen Musenalmanach erschienen.

Nach Emkendorf ist Claudius aber frühestens in den mittleren bis späten 1780er-Jahren gekommen." Dann nämlich, als das Grafenehepaar Reventlow das Schloss Emkendorf zu einem klassizistischen Herrenhaus umbauen ließ.

Darmstadt war zu deprimierend

"Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen" - dieses geflügelte Wort stammt auch von Matthias Claudius, und kaum einer weiß es. Die Reise des Dichters nach Darmstadt im Jahr 1776 lässt die Hessen jubeln: Zeitlich passt es. Dort am Schnampelweg, am Waldesrand mit dahinplätscherndem Darmbach, mit Bank, Widmung und Claudiuseiche seien die sieben Strophen des Abendliedes entstanden, glauben die Hessen.

Die erste Strophe des Abendlieds von Matthias Claudius

Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar;
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar

Könnten sie, sagt Reinhard Görisch, und schiebt ein "aber" hinterher: "Das Problem ist folgendes: Als Claudius aus Darmstadt, wo er ja nur ein Jahr war und unglücklich war, beruflich und dadurch auch persönlich, als er aus Darmstadt zurückkehrte, hat er, um seine Finanzen aufzubessern, rasch den dritten Teil seiner sämtlichen Werke zusammengestellt und hat in der Ankündigung mehr Umfang versprochen, als er dann tatsächlich liefern konnte. Hätte er das Abendlied aus Darmstadt im Gepäck gehabt, dann hätte er es mit Sicherheit in diesen Band noch reingebracht."

Also Wandsbek?

So entschwindet auch dieser lokale Literaturmythos wie im weißen Nebel. "Der Mond ist aufgegangen" ist eines der am meisten abgedruckten deutschen Lieder. 78 verschiedene Vertonungen existieren. Es gehört gleich in vier Kategorien: Es ist Abendlied, Kinderlied, Kirchenlied und Volkslied - und komme eben doch aus dem Norden, sagt der Claudiuskenner Reinhard Görisch: "Es ist relativ wahrscheinlich, dass Claudius das Abendlied in Wandsbek verfasst hat, wo natürlich auch der Wald schwarz steht, übrigens auch in Marburg, wo ich herkomme. Er war glücklich, nachdem er wieder aus Darmstadt weg war. Es muss in Wandsbek geschrieben sein."

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Wandsbek war 1777 noch ein eigenständiger kleiner Ort, eine Gehstunde von Hamburg entfernt. Das Wohnhaus von Claudius steht nicht mehr, und auch die Hamburger Heimatforscher haben keine anderen Argumente als die Emkendorfer oder die Darmstädter: Der Wald! Der Nebel! Und: Die Wiesen!

"Man würde Claudius total unterschätzen, wenn man sich vorstellen wollte, er hätte sich sozusagen auf eine Bank vor seinem Haus gesetzt, hätte Block und Bleistift in die Hand genommen, zum Himmel geguckt und dann geschrieben: Ah, der Mond ist aufgegangen und jetzt prangen auch die goldenen Sternlein", meint Görisch. "Er bedurfte nicht dieser quasi naturalistischen Anschauung, um seine Verse zu schreiben. Und insofern ist die Konkurrenz der Entstehungsorte eigentlich Quatsch."

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Porträt Matthias Claudius © picture-alliance / akg-images

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 21.01.2015 | 07:20 Uhr

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