Graf Orlok (Max Schreck) kommt in Wisborg an; mit ihm auf dem Schiff die pestbringenden Ratten in einer Szene aus "Nosferatu - eine Symphonie des Grauens" von F. W. Murnau (D, 1922) auf ARTE TV © ZDF/Arte/dpa

"Nosferatu 2.0" in Wismar: Das Grauen kehrt zurück

Stand: 15.07.2022 00:00 Uhr

Wie lässt man einen Vampir auferstehen, der seit 100 Jahren über Filmleinwände spukt? Mit "Nosferatu 2.0" haben Theatermacher in Wismar das Experiment gewagt.

von Thomas Naedler

Den Urgroßvater aller Horrorfilme auf die Bühne zu bringen, das haben sich Regisseur Holger Mahlich und sein Ensemble vorgenommen. An historischem Ort spielen sie ein fiktionales "Making of" von "Nosferatu - Sinfonie des Grauens".

Die Idee: Das Publikum erlebt den ersten Drehtag für den Stummfilmklassiker. Damit die Illusion gelingt, wird der Blick der Kamera auf eine Leinwand in der Höhe projiziert, im Altarraum der St. Georgenkirche. Und wie es sich für einen ersten Drehtag gehört, läuft nicht alles glatt, vor allem die exzentrischen Stummfilmstars bringen das Filmteam an den Rand des Wahnsinns.

Schauspieler mit Allüren - Komik ohne Grusel

Wenn Schauspieler Schauspieler am Set spielen, tritt zutage, was alle, die nicht professionell mit Theater oder Film zu tun haben, schon immer ahnten: Mögen Stars und Sternchen noch so sehr lächeln: Hinter den Kulissen tobt ein Kampf um Aufmerksamkeit. Jeder möchte gesehen werden - vor allem von der Kamera. In der Inszenierung ist das eine naturalistische Nachbildung einer der Kameras, die um 1920 an den Filmsets benutzt wurden: ein hölzerner Kasten auf hölzernem Stativ auf Rädern.

 

Um ihren Blick buhlen die Schöne (Marina Senckel als Greta Schröder), der junge Mann, Eigencharakterisierung "Typ Naturbursche" (Marvin Schulze als Gustav von Wangenheim) und natürlich: der alternde Star (Dietmar Lahaine als Max Schreck), der eben noch "den Richard gegeben" hat und nun in bewusst überdrehtem Kostüm mit falschen Zähnen und Fingernägeln vor allem eins zeigen soll: Verlangen nach Blut. Dass der Regisseur (Robert Glatzeder) dabei die Geduld nicht verliert, grenzt an ein Wunder. Dafür leidet seine Regieassistentin (Traudel Sperber) unter den Schauspielerallüren umso mehr, bis sie, immer duldsam und eifrig natürlich, nur noch eine Lösung weiß: Alkohol.

Live-Musik und ein buntes Ensemble

Das Bühnenbild bleibt schlicht und variabel: Bücherregal und Kamin, Tisch und Schlossmauern. Die schnellen Umbauten erledigen Schauspieler und Statisten auf offener Bühne. Der optische Star bleibt so der Spielort selbst: der unglaublich weite, hohe und backsteinrote Raum der St. Georgenkirche. Musikalisch konnte Regisseur Holger Mahlich aus dem Vollen schöpfen. Der Wismarer Kantor und Kirchenmusiker Christian Thadewald-Friedrich hatte für Aufführungen des Original-Stummfilms bereits eine musikalische Begleitung komponiert, die nun etwas angepasst und erweitert für das Theaterstück genutzt wird. "Etwas Arbeit steckt doch noch dahinter, weil das neu arrangiert werden musste, weil wir noch einen vierten Musiker dabei haben. Deshalb gibt es noch eine neue Stimme - Violine und Saxophon", sagt der Kantor.

Die Musik spielen Christian Thadewald-Friedrich und drei weitere Musiker live. Schlagzeug, Keyboards, Bass, Geige und Saxophon erklingen passgenau zum Spiel auf der Bühne. Neben den Profis sind auch Darstellerinnen und Darsteller aus der Theatergruppe "Charakterköpfe" dabei, die zu den Wismarer Werkstätten für Menschen mit Behinderung gehört. Sie tragen zum Beispiel den Sarg des Vampirs. "Aber wir tun nur so, als ob er schwer ist, langsam gehen und so… dabei ist der gar nicht schwer", sagt Sandra Schulz von den "Charakterköpfen" lächelnd. Am meisten Spaß mache ihr der Applaus am Schluss, erzählt sie.

Der Film Nosferatu: Norddeutsche Städte als Kulisse

Im Juli 1921 hatte das Filmteam mit den Aufnahmen zu "Nosferatu - eine Sinfonie des Grauens" begonnen. Eine Einstellung, gedreht vom Turm der Marienkirche, zeigt den Marktplatz mit den Wasserspielen, gedreht wurde auch im Hafen und neben der St. Georgenkirche, in der nun das Theaterstück gezeigt wird. Der norddeutsche Backstein muss es den Filmemachern angetan haben, denn auch Lübeck wurde zur Kulisse für den Schauplatz des Grauen. Im Film heißt die so zusammengesetzte Stadt, in der Nosferatu seinen Schrecken verbreitet, Wisborg. Dass sich Murnau dabei, ohne die Rechte geklärt zu haben, ausführlich an Bram Stokers Roman "Dracula" bedient hatte, wäre dem Film beinahe zum Verhängnis geworden. Drei Jahre nach Erscheinen hatte ein Gericht geurteilt, alle Kopien von "Nosferatu" müssten vernichtet werden, doch das gelang nicht, weil schon zu viele Kopien im Umlauf waren.

Nosferatu in Wismar - eine Stadt feiert ihren Film

Mit zahlreichen Aktionen haben die Wismarer bereits an "Nosferatu" erinnert - der Streifen von Friedrich Wilhelm Murnau gilt als der erste Horrorfilm überhaupt. Überlebensgroße Puppen sind deshalb schon durch die Stadt gestapft, Musiker haben für den Stummfilm eine neuen Klangkulisse komponiert und live aufgeführt und auch das aktuelle Theaterstück "Nosferatu 2.0" basiert auf einer Inszenierung aus dem vergangenen Jahr. Da allerdings wurde das Ensemble zum Teil noch von den geltenden Corona-Regeln gebremst. "Die Szenen, die ich jetzt hinzugefügt habe, da hat sich bei den Proben gezeigt, dass die echt witzig sind. Ich glaube, dass die Leute sich wie Bolle amüsieren", sagt Regisseur Holger Mahlich.

Nun also können sie aus dem Vollen schöpfen und an historischem Ort dem Untoten neues Leben einhauchen. Gespielt wird in der Wismarer St. Georgenkirche 14 Mal bis zum 6. August. Unter anderem geplant ist eine familienfreundliche Aufführung am 24. Juli - dann beginnt das Stück schon um 16 Uhr -, eine barrierefreie Vorstellung mit Audiodeskription und Gebärdendolmetscher am 31. Juli - ebenfalls um 16 Uhr - und eine Mitternachtsaufführung am 30. Juli.

 

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | Kulturjournal | 15.07.2022 | 19:00 Uhr

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