"Wir sind dann wohl die Angehörigen": Familiendrama statt Krimi

Stand: 02.10.2022 10:33 Uhr

Das Entführungsdrama "Wir sind dann wohl die Angehörigen" zeigt das Hoffen und Bangen der Familie Jan-Philipp Reemtsmas während dessen Entführung 1996. Nach der Weltpremiere beim Filmfest Hamburg sprach Regisseur Hans-Christian Schmid im Interview über den Film.

Das 30. Filmfest Hamburg wurde am 29. September mit der NDR Koproduktion "Wir sind dann wohl die Angehörigen" eröffnet. Der Film basiert auf dem Buch Johann Scheerers, dem Sohn von Jan Philipp Reemtsma, der 1996 als 13-Jähriger die Entführung seines Vaters erlebte. 33 Tage Hoffen und Bangen an der Seite seiner Mutter, eines befreundeten Rechtsanwalts und der Polizeibeamten, die sich im Haus einquartiert hatten. Und am Ende gab es zwar ein Wiedersehen mit dem Vater, aber kein Happy End, sondern ein Weiterleben-Müssen mit dem Trauma. Am 3. November kommt der Film ins Kino. Ein Gespräch nach der Weltpremiere mit Regisseur und Autor Hans-Christian Schmid.

Herr Schmid, Sie haben aus einem Thriller-Stoff einen Anti-Thriller gemacht, indem Sie auf jede Krimi-Action verzichten und rein aus der Sicht der Angehörigen erzählen. War das von Anfang an der Plan? Es wäre ja auch möglich gewesen, die Gegenperspektive des Entführten einzubauen, da es auch von ihm ein Buch gibt.

Hans-Christian Schmid: Es war schon von vornherein klar, dass wir uns auf die Familiengeschichte konzentrieren. Das hat uns am meisten interessiert, dieses Dreieck aus Vater, Mutter, Sohn. Wir haben dann bewusst versucht, die Möglichkeiten, bei denen man in Richtung Krimi hätte abzweigen können, nicht zu wählen. Wir zeigen keine Ermittlungsarbeiten der Polizei; wir unterstützen die Spannung, die ohnehin da ist, nicht noch durch Musik, die das verstärkt, sondern wir fokussieren uns auf den Kern, auf die Familie.

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Eigentlich verweigern Sie gerade das, was True-Crime-Formate so erfolgreich macht. Könnte es sein, dass sie da auch gewisse Erwartungen nicht bedienen?

Schmid: Absolut. Aber ich hoffe, dass die Zuschauer da mitgehen. Gerade weil sich True Crime so ausbreitet und ich kaum noch eine männliche Besetzung für einen Kinofilm finden kann, weil die Schauspieler oft in irgendwelchen Fernsehkrimis tätig sind, versuche ich, diese ausgetretenen Pfade zu meiden. Und wenn ich dann so einen Stoff auf den Tisch bekomme, versuche ich natürlich auch, mich durch meinen Zugang zu unterscheiden, zum Beispiel durch die Art der Figurenzeichnung.

Man hat natürlich auch eine ganz andere Verantwortung, wenn die Personen, deren Geschichte Sie erzählen, real sind. Wie sind Sie damit umgegangen?

Der Schauspieler Claude Heinrich (l-r), Drehbuchautor Michael Gutmann, Schauspielerin Adina Vetter, Regisseur Hans-Christian Schmid und Produzentin Britta Knöller posieren beim 30. Filmfest Hamburg auf dem Roten Teppich. © Axel Heimken/dpa
Schauspieler Claude Heinrich (v. l.), Drehbuchautor Michael Gutmann, Schauspielerin Adina Vetter, Regisseur Hans-Christian Schmid und Produzentin Britta Knöller bei der Premiere von "Wir sind dann wohl die Angehörigen".

Schmid: Wir haben immer gespürt, dass wir eine große Verantwortung gegenüber den Zeitzeugen haben. Es war aber nicht nur so, dass wir denen gerecht werden wollten, sondern auch Johann Scheerers Buch. Und wir wollten einen spannenden Kinofilm erzählen. Zwischen diesen drei Säulen ging die Stoffentwicklung eigentlich immer hin und her. Wir haben von Buchfassung zu Buchfassung entsprechend dann die Angehörigen oder die Polizei-Betreuer getroffen, haben Interviews mit ihnen geführt und diese Ergebnisse dann immer wieder in die neueste Fassung einfließen lassen. Aber dass wir sie alle mitnehmen konnten auf diese Reise, dass sie auch die Stoffentwicklung miterlebt haben, das hat natürlich geholfen. Letztlich hat das dazu geführt, dass sie sich, glaube ich, mit dem fertigen Film identifizieren konnten.

Gespräche mit allen Beteiligten waren also eine Voraussetzung für Sie?

Schmid: Genau, da gibt es ja auch den juristischen Aspekt. Wir können nicht einfach die Rechte an dem Buch erwerben und dann davon ausgehen, dass alle Menschen, die darin eine Rolle spielen, auch gleichzeitig damit einverstanden sind, dass wir sie im Film zeigen und Dialoge für sie entwickeln. Deshalb war es früh klar, dass wir Kontakt mit ihnen aufnehmen würden. Und das ging über Johann Scheerer. Ich glaube auch, es war wichtig, dass die Familie Johann unterstützen wollte bei seinem Wunsch, dass da ein Film entsteht. Dementsprechend waren die Türen alle offen für uns. Das habe ich total wertgeschätzt und letztlich auch bewundert, dass sie sich die Zeit für uns genommen haben. Wir konnten immer wieder mit unseren Fragen kommen.

Johann Scheerer hat dieses Buch geschrieben, um öffentlich zu machen, was so ein Verbrechen für die Opfer bedeutet. Er sagt auch, dass er seine traumatischen Erinnerungen aufschreiben musste, um den Opferstatus zunächst annehmen und danach dann auch endlich ablegen zu können. Ist auch der Film Teil der Trauma-Bewältigung?

Schmid: Für Johann möglicherweise ja. Er hat auf alle Fälle immer das Gefühl vermittelt, dass ihm wichtig ist, entscheiden zu können, was mit seinem Buch passiert. Ob das ein Theaterstück wird oder ein Film, oder ob da nichts mehr entsteht. Deshalb, glaube ich, ist der Film schon Teil seines Wunsches nach einer Deutungshoheit. Und das kann ich sehr gut nachvollziehen. Auch wie er in Interviews über das Opfer-Sein spricht. Er sagt ja, er könne überhaupt nicht nachvollziehen, wie Menschen sagen können, "das ist doch gut ausgegangen". Für ihn war schon ganz am Anfang klar, dass da nichts mehr gut werden könnte. Das war auch für mich eine sehr interessante Reflexion.

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Sie zeigen in Ihrem Film, zwischen diversen gescheiterten Lösegeld-Übergaben, gewissermaßen den Entführungsalltag. Man stellt sich vielleicht nicht unbedingt vor, dass da Tischtennis und Karten gespielt wird, oder dass jemand mit Johann auf den Rummelplatz geht.

Schmid: Ich hab mir das erst einmal auch gar nicht so vorgestellt. Das war ja auch toll, Johanns Buch zu lesen und zu erfahren, was es da alles gab in dieser Zeit in dem Haus. Er schreibt, da waren Abende dabei, an denen die Stimmung unglaublich heiter war. Also natürlich auch als ein Ventil, um diesen Druck zu lösen. Das ist auch ein Aspekt, der mich interessiert hat: Wie verhalten sich diese Menschen in dieser Situation, unter diesem Druck von außen? Welche Routinen entwickeln sie? Wo zeigt sich ihre Überforderung? Man muss sich vorstellen, dass die am Anfang dachten, das geht vielleicht ein paar Tage lang. Und dann dauerte es über vier Wochen.

Überraschend auch, wie gefasst die Ehefrau Ann-Kathrin Scheerer in der Situation bleibt. Man erwartet ja nach der Entführung laute Ausbrüche, Heulen und Zähneknirschen, aber sie agiert sehr beherrscht. Wie hat sie das geschafft?

Schmid: Ann-Kathrin Scheerer und Johann hatten eine Vereinbarung getroffen, dass sie stark sein wollten, und dass sie sich eben beherrschen und sich nicht gegenseitig zeigen wollten, wie schlecht es ihnen geht. Sie haben sich gesagt: Es wird nicht geweint im Haus. Das finde ich schon bewundernswert, dass sie so versucht haben, durch diese Zeit zu kommen. Das kann vielleicht etwas kühl wirken, weil man denkt, jetzt müssen die doch mal wirklich ausrasten. Aber ich konnte das dann doch gut nachvollziehen. In der Figurenentwicklung merkt man, glaube ich, im Laufe des Films, dass die Beherrschung dann auch nicht mehr funktioniert, dass auch Johanns Mutter einmal die Nerven verliert, als das Faxgerät nicht funktioniert. Und dann dieser Zusammenbruch auf dem Polizeirevier - das sind natürlich auch Möglichkeiten, innerhalb von einer Zwei-Stunden-Geschichte einen Spannungsbogen von einer Figur zu zeichnen.

Johann Scheerer selbst meinte, die Sprachlosigkeit, die damals während dieser unerträglichen Warte-Situation im Haus herrschte, könne man im Film sogar noch besser darstellen als im Buch. Dafür braucht man aber charismatische Schauspieler und Schauspielerinnen, oder?

Schmid: Ja, Besetzung ist der Schlüssel für mich - ebenso wie Drehbucharbeit. Ich glaube, wenn man das gut hinbekommt und dabei sorgfältig ist, gute Ideen hat, dann ist das schon der größte Teil der Miete. Man denkt ja immer, die Dreharbeiten seien der entscheidende Faktor, was da passiert, welche Motive man findet, und ob das alles so klappt, wie geplant. Aber alles, was wirklich entscheidend ist, passiert für mein Gefühl tatsächlich schon im Vorfeld - durch das Drehbuch und durch die Besetzung. Wenn ich dabei die richtigen Entscheidungen fälle, dann wüsste ich nicht, wie es noch schief gehen könnte. Andersherum: Wenn ich einen Fehler mache in dieser Vorarbeit, dann nützen mir auch die besten Bedingungen beim Drehen nichts mehr.

Sie waren für die Gespräche im Hause Reemtsma zu Gast, haben aber nicht am Original-Schauplatz gedreht, oder?

Schmid: Das haben wir nie angefragt. Wir haben aber, nicht so weit entfernt davon, in Nienstedten gedreht. Das ist ja auch ein Elbvorort, in dem Villen stehen. Und dort haben wir nach leer stehenden Häusern gesucht. Aber es ging uns im Film gar nicht so sehr darum, die Original-Szenerie eins zu eins nachzustellen. Wichtiger war für uns, dass wir in dem Haus bestimmte Blickachsen haben. Wir sind ja zu Dreiviertel des Films in diesem Haus, und die meiste Zeit sitzen die Figuren um den Esszimmer-Tisch. Da haben wir bei der Auswahl des Motivs sehr genau darauf geachtet, welche Blickverbindungen es gibt und welche Wege im Haus. Kann Johann von der Treppe aus nach unten gucken? Also alles, was auch beschrieben war in Johanns Buch.

Vor dem Premierenpublikum haben Sie den Film bereits der Familie gezeigt. Das war sicher ein wichtiger Moment.

Schmid: Ja, das war mir wichtig, den Familienmitgliedern und auch dem Anwalt Johann Schwenn den Film vorab zu zeigen. Sie konnten sich zum Glück damit identifizieren. Sie mochten ihn. Das war natürlich auch eine große Bestätigung für uns, dass wir nicht ganz falsch liegen mit unserem Ansatz, die Geschichte zu erzählen.

Das Gespräch führte Walli Müller.

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Dieses Thema im Programm:

Hamburg Journal 18:00 Uhr | 01.10.2022 | 18:00 Uhr

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