Hörspiel

Hörspiel des Jahres: "Pisten"

Mittwoch, 15. Juni 2022, 20:00 bis 22:00 Uhr

Ein mit Wüstensand geflutetes Haus in der Kolmannskuppe in Namibia. © photocase | Don Espresso Foto: Don Espresso

Ein mit Wüstensand geflutetes Haus in der Kolmannskuppe in Namibia. © photocase | Don Espresso Foto: Don Espresso
2010 reiste Penda Diouf nach Namibia, in das Land Frankie Fredericks, den sie seit Kindheitstagen verehrt hat.
Hörspiel von Penda Diouf.

Die Produktion wurde von der Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste als Hörspiel des Jahres 2022 ausgezeichnet. Die Begründung in voller Länge:

„Pisten“ von Penda Diouf erzählt von tiefsitzenden, körperlichen wie seelischen Wunden, die nur schwer bis gar nicht verheilen, u.a. weil von ihnen noch immer zu wenig gesprochen wird. Dieser autobiographische Theatermonolog geht unter die Haut, und in der herausragenden Hörspielfassung, inszeniert von Christine Nagel und gesprochen von Abak Safaei-Rad, noch viel mehr.
In dem Text verwebt die französisch-senegalesisch-ivorische Autorin und Schauspielerin ihre eigene Geschichte als 1981 in Dijon geborene Tochter afrikanischer Eltern mit der Geschichte und Gegenwart von Kolonialismus und Rassismus gegenüber Schwarzen* Menschen und deren Widerstand dagegen.
Im Zentrum des Hörspiels steht eine Reise, die Penda Diouf 2010 nach Namibia unternahm. Ausgangspunkt dieser Reise ist eine Lebenskrise der Ich-Erzählerin, die in einer Depression gipfelte, welche aus den unterschiedlichen rassistischen und traumatischen Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend resultierte. Schlaglichtartig erfahren wir von ihnen, durch die Beschreibung von bedrückenden Szenen wie z.B. der, als ihr beim Karneval im Gegensatz zu den anderen Kindern die schwarze Farbe im Gesicht verwehrt wird, weil sie ja schon Schwarz sei, oder der Szene der Verabschiedung von ihrem von Rassisten in Frankreich ermordeten Onkel in der Leichenhalle.
Durch ihre Reise erhält das individuelle Schicksal der jungen Frau jedoch eine historische und politische Dimension, da sie mit der Geschichte Namibias konfrontiert wird: Zum einen mit den Spuren der Apartheid, da Namibia von 1915 bis 1990 von Südafrika besetzt war, zum anderen v.a. aber auch mit den Spuren des Völkermords an den Herero und Nama, der in der damaligen deutschen Kolonie Deutsch-Südwestafrika (1884–1915) unter dem preußischen General Lothar von Trotha mit Unterstützung des deutschen Kaisers Wilhelm II. begangen wurde.
Das furchtbare Schicksal der Opfer kontrastiert Diouf im Hörspiel einerseits mit der Geschichte des Widerstands der Herero und Nama sowie den herausragenden Leistungen und Widerstandsgesten Schwarzer Sportler*innen von Jesse Owens über Surya Bonaly bis Colin Kaepernick und andererseits mit ihrem eigenen, zunehmenden Mut, als selbstbewusste und kämpferische, Schwarze Frau und Schriftstellerin sichtbar zu werden und ihre Stimme zu erheben.
Indem Diouf von diesen tiefen, anhaltenden Wunden spricht, die Kolonialismus und Rassismus geschlagen haben, und wie sie von ihnen spricht, tut sie das Einzige, was vielleicht zumindest ein bisschen dabei helfen kann, Traumata zu heilen: Sie holt sie aus dem Verdrängten, Verschwiegenen, Vergessenen in unser Bewusstsein, und sie tut das auf so poetische und einfühlsame Weise, dass sie beim Hören auch weiße Menschen, Nachkommen der europäischen Kolonialmächte, tief berühren und dazu bewegen, über die Ursachen dieser Wunden nachzudenken und sich zu ihnen zu verhalten.
Der literarische Text der Autorin Penda Diouf, in der gelungenen Übersetzung von Annette Bühler-Dietrich, die schauspielerische Leistung der Sprecherin Abak Safaei-Rad sowie die Schauspielführung und Inszenierung der Regisseurin Christine Nagel sind dabei gleichermaßen herausragend. Pisten überzeugt somit in jeder Hinsicht, nicht nur als Hörspiel des Monats Juni 2022, sondern ebenso als Hörspiel des Jahres 2022.

Abak Safaei-Rad bei den Aufnahmen zu "Pisten". © NDR | Christine Nagel Foto: Christine Nagel
Abak Safaei-Rad bei den Aufnahmen zu "Pisten".

(* Das Adjektiv Schwarz mit einem großen S geschrieben bezeichnet gerade nicht eine Hautfarbe, sondern markiert eine sozio-politische Position innerhalb einer mehrheitlich weiß dominierten Gesellschaft. Diese Schreibweise wurde als emanzipatorische Praxis von Autor*innen der Schwarzen Diaspora eingeführt. Wir haben sie übernommen, um unsere Solidarität mit deren antirassistischen Anliegen auszudrücken.)

Eine von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste für ein Jahr eingesetzte Jury wählt Monat für Monat aus den ARD- sowie SRF- und ORF-Ursendungen die nach ihrer Meinung beste Produktion. Die Jury im Jahr 2022 waren Neo Hülcker, Komponist* und Performer*, sowie Ania Mauruschat, Medienkulturwissenschaftlerin und Radiojournalistin, und Vito Pinto, Theaterwissenschaftler und Textwerker.

Penda Diouf © Penda Diouf Foto: Penda Diouf
Die Schauspielerin und Dramatikerin Penda Diouf.

Penda Diouf beschäftigt sich in zahlreichen Arbeiten mit Fragen der Identität, des Feminismus, der Unterdrückung und der Kolonialisierung. Ihr Stück "Die große Bärin" wurde 2021 mit dem französischen Jugendtheaterpreis Prix Collidram ausgezeichnet. Sie ist Mitbegründerin des Formats "Jeunes textes en liberté", das jungen Autor*innen in Frankreich mit Veranstaltungen und Schreibworkshops eine Plattform bietet.

 

Pisten

Hörspiel von Penda Diouf.
Übersetzung aus dem Französischen: Annette Bühler-Dietrich.

Mit: Abak Safaei-Rad.

Musik: Niko Meinhold.
Gesang: MFA Kera, Naima Schmitt und Diane Davenport sowie Kinder der Märkischen Grundschule Berlin-Reinickendorf.

Dank an das Phonogramm-Archiv des Ethnologischen Museums Berlin - Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Inventarnummer VII K 0286., für die Genehmigung der Verwendung von Originalton-Aufnahmen von Ernst Dammann.

Ton: Ti To.
Bearbeitung und Regie: Christine Nagel.
Produktion: NDR 2022.
Dramaturgie und Redaktion: Michael Becker.

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