"Das Ereignis" im Deutschen Schauspielhaus Hamburg © Deutsches Schauspielhaus Hamburg/ Sinje Hasheider Foto: Sinje Hasheider

"Das Ereignis" in Hamburg: Viel Nähe und Intensität

Stand: 15.10.2022 08:11 Uhr

Seit gut einer Woche ist bekannt: Der Literaturnobelpreis geht in diesem Jahr an die Französin Annie Ernaux. Im Hamburger Schauspielhaus bringt ein reines Frauenteam Ernaux' Roman "Das Ereignis" auf die Bühne.

von Katja Weise

Ein kleiner Bühnenraum: Knapp 40 Menschen passen auf die weißen Bänke rechts und links an den Wänden im Rangfoyer des Deutschen Schauspielhauses Hamburg. Der Boden ist ebenfalls weiß, klinisch weiß. In der Mitte erhebt sich eine Skulptur aus ineinander verschlungenen Frauenbeinen und -armen, gesichtslose, anonyme Körper. Drei Schauspielerinnen kommen hinzu, sie erzählen, spielen Annie.

"Das Ereignis" von Annie Ernaux in Hamburg

"1963 wartete ich in Rouen über eine Woche darauf, dass meine Tage kamen." Zitat aus "Das Ereignis"

Annie ist 23 und schwanger. Sie studiert Literatur und möchte das Kind nicht bekommen, doch Abtreibungen sind in den 1960er-Jahren in Frankreich verboten. Damit beginnt eine Odyssee:

"Gehen Sie, raus aus meiner Praxis, raus!" Zitat aus "Das Ereignis"

 

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Die Schauspielerin Sandra Gerling © Screenshot
2 Min

"Das Ereignis" am Schauspielhaus: Sandra Gerling im Porträt

Das Stück nach einem Roman von Annie Ernaux spielt vor nur knapp 40 Zuschauern. Tragische Charaktere liegen ihr besonders. 2 Min

Abtreibungsverbot ist aktueller denn je

Die Regisseurin, die Italienerin Annalisa Engheben, beschäftigt sich schon lange mit dem Stoff. Heute sei er aktueller denn je, sagt sie. Sie will den Frauen eine Stimme geben, die weltweit dieser Situation ausgesetzt sind: "Das ist das Schönste vom Theater, dass man das nutzen kann, um so etwas zu sagen. Das ist definitiv der richtige Moment dafür."

Dabei geht sie den Weg der Reduktion, ganz nah am Text. Sandra Gerling, Josefine Israel und Sasha Rau teilen sich die Rolle der Annie, kreisen um die Skulptur, suchen darin Schutz, steigen hinauf, arbeiten sich an ihr ab. Als Annie schließlich in die Hauptstadt zu einer Engelmacherin fährt, werden die riesigen Gliedmaßen gewaschen.

"Die Frau sagte, hören sie auf zu schreien, Kind." Zitat aus "Das Ereignis"

Mitten im Geschehen: Das Publikum

Ein Kniff dieser eindringlichen Inszenierung ist, dass sich das Publikum dem Geschehen kaum entziehen kann. Wirklich jede und jeder sitzt in der ersten Reihe: "So versuche ich, die Geschichte zu erweitern oder nach draußen zu bringen, zu allen", erklärt Engheben. "Deswegen auch diese Verbindung zu dem Publikum. Da kann man sich nicht komplett abkoppeln wie man das normalerweise bei einer Blackbox-Bühne machen kann. Die sind da und man muss die wahrnehmen."

Damit folgt die Regisseurin konsequent Annie Ernaux, die auch mit dieser autofiktionalen Geschichte eine Sprecherin ist für viele Frauen, vor allem für jene, die keine Verbindungen haben und kein Geld. Die unverheiratete Schwangere, schreibt Ernaux, sei ein "Symbol der Armut". Die Literaturstudentin, die aus einer Arbeiterfamilie stammt, stellt fest:

"Im Sex hatte mich meine Herkunft eingeholt. Was da in mir heranwuchs, war in gewisser Weise das Scheitern meines sozialen Aufstiegs." Zitat aus "Das Ereignis"

Reines Frauenteam im Schauspielhaus Hamburg

Annalisa Engheben und ihr Frauenteam schaffen einen konzentrierten Abend, der seine Kraft aus der Nähe und dem intensiven Spiel schöpft. Mit wenigen Mitteln entstehen eindringliche Bilder - etwa wenn die Schauspielerinnen von großen Wollknäulen Fäden abwickeln und die Skulptur erst umwickeln, dann zu verschieben suchen. Denn die verschlungenen Körper bewegen sich nicht, die Frauen bleiben machtlos. In diesem Moment. Aber sie geben nicht auf, suchen nach anderen Wegen und bezahlen dafür fast mit dem Leben.

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Im Schauspielhaus bringt ein reines Frauenteam Annie Ernaux' Roman auf die Bühne - vor nur 40 Menschen pro Vorstellung.

Art:
Bühne
Datum:
Ende:
Ort:
Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Kirchenallee 39
20099 Hamburg
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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch in den Tag | 15.10.2022 | 07:20 Uhr

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Theater

Romane

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