"Ocean State": Fesselnder Gesellschaftsroman von Stewart O’Nan
"Ocean State" ist ein fesselnder, bewegender Roman, der viel über die gesellschaftlichen Verwerfungen unserer Zeit erzählt. Stewart O’Nan kreiert eine intensive, emotional aufgeladene Atmosphäre.
In der kleinen Küstenstadt Westerly, Rhode Island, spielt Stewart O’Nans neuer Roman. Hier arbeitet die alleinerziehende Carol als Pflegerin in einem Seniorenheim. Gerade ist sie mit ihren Töchtern Angel und Marie in ein heruntergekommenes Haus, draußen bei der alten Schnurfabrik, gezogen. Marie ist 13 und häufig allein, weil ihre Mutter einen neuen Mann sucht. Ihre ältere Schwester Angel, deren Freund Myles und eine Mitschülerin - Birdy - sind in eine Dreiecksgeschichte verwickelt. Dass die Liaison nicht gut ausgehen wird, verrät Stewart O’Nan gleich im ersten Absatz:
Als ich im achten Schuljahr war, half meine Schwester dabei, ein anderes Mädchen zu töten. Sie sei verliebt gewesen, sagte meine Mutter, als wäre das eine Entschuldigung. Sie habe nicht gewusst, was sie tat. Ich war damals noch nie verliebt gewesen, nicht richtig, deshalb wusste ich nicht, was meine Mutter meinte, aber inzwischen weiß ich es. Leseprobe
Stewart O’Nan erzählt präzise und mit großer Intensität
Maries Rückblick auf die tragischen Ereignisse im Jahr 2009 bildet einen Erzählstrang; den anderen erzählt Stewart O’Nan im Präsens: Mal schaut man aus Angels Perspektive auf das Geschehen, dann durch die Augen der verliebten Birdy oder die von Carol, die schon in der Gegend groß geworden ist. Präzise und mit großer Intensität breitet O’Nan das Innenleben seiner Figuren aus und wie in vielen seiner vorherigen Romane gelingt es ihm auch hier wieder, persönliche Geschichte mit den gesellschaftlichen Verwerfungen fast schon beiläufig zu verknüpfen. Oft sind es scheinbar unbedeutende Details, in denen sich ganze Lebenswelten spiegeln:
Als sie noch verheiratet waren, kümmerte sich Frank um die Autos, den Garten und die Rechnungen. Jetzt, auf sich gestellt, ist er hilflos. Sie sind seit acht Jahren geschieden, und noch immer ruft er an, um sich ein Thermometer oder eine Wärmflasche zu borgen, als wäre es Geldverschwendung, sich eine eigene zu kaufen, und wozu auch? Solange Carol da ist, ist das nicht nötig."
Bewegender Roman über die gesellschaftlichen Verwerfungen unserer Zeit
Während Carol und Frank sich abstrampeln müssen, um über die Runden zu kommen, stammt Myles aus einem reichen Elternhaus - was zweifellos einen Teil seiner Anziehungskraft auf Angel und Birdy ausmacht. Auch später, als es schon um Anwälte und Prozesse geht, wird ihm seine Herkunft helfen: "Man muss die richtigen Leute kennen", lautet ein scheinbar lapidarer Satz, in dem sich das tiefe soziale Gefälle dieser Geschichte offenbart.
"Ocean State" ist ein fesselnder, bewegender Roman, der viel über die gesellschaftlichen Verwerfungen unserer Zeit erzählt und das daraus folgende Zerbrechen tradierter Familienstrukturen und Beziehungen. Die vier Frauenfiguren Carol, Marie, Angel und Birdy gehen einem noch ebenso lange nach, wie die intensive, emotional aufgeladene Atmosphäre dieses Romans. Meisterlich erzählt Stewart O’Nan in "Ocean State" von unterdrückter Wut, die aus alltäglich erlebter Ungerechtigkeit erwächst und von der Resignation, die daraus folgt, weil alle wissen, dass sich - zumindest zu ihren Lebzeiten - nichts daran ändern wird.
Ocean State
- Seitenzahl:
- 256 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Gunkel
- Verlag:
- Rowohlt
- Bestellnummer:
- 978-3-498-00268-8
- Preis:
- 24 €
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Romane
