Stand: 16.09.2015 10:45 Uhr

Apoll und Tristan am Oranienplatz

von Ulrike Sárkány

Als Jenny Erpenbeck an ihrem neuen Roman schrieb, konnte sie wohl kaum vorausahnen, welch dringliche Aktualität er jetzt bei Erscheinen haben würde. "Gehen, ging, gegangen" handelt von den Flüchtlingen, die von Oktober 2012 bis April 2014 mit einem Zeltlager auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg gegen Abschiebungen, Arbeitsverbot und Residenzpflicht protestierten. Die Geschichte erzählt aber auch von der Läuterung eines alten Mannes. Das Buch steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.

Wohin mit seiner Zeit?

Richard ist frisch emeritierter Professor für alte Sprachen. Er lebt in einem schönen Haus am See, allerdings ganz allein, seit seine Frau gestorben ist. Die Geliebte, die er einst hatte, hat ihn auch längst verlassen. Welche charakterliche Eigenschaften Richard an sich hat, die ihn etwas schwer erträglich machen, wird man im Lauf des Romans genauer erfahren. Vorerst beschäftigt ihn ein Ertrunkener in seinem See, dessentwegen er aufs Baden verzichtet, und die Frage, was er jetzt mit seiner Zeit anfangen soll. Beim Roten Rathaus sind Unterirdische Hallen freigelegt worden, die im Mittelalter einen Markt beherbergten. Die geht er sich anschauen.

Erst abends, als er vor dem Fernseher sein Abendbrot vertilgt, erfährt er von einer Demonstration, an der er vorbeigelaufen sein muss.

"... auf dem Alexanderplatz haben sich zehn Männer versammelt, Flüchtlinge offensichtlich, und sie sind in einen Hungerstreik getreten, einer der Hungerstreikenden ist zusammengebrochen und wurde ins Krankenhaus abtransportiert. Auf dem Alexanderplatz? Man sieht, wie ein Mann auf einer Liege in einen Krankenwagen geschoben wird. Dort, wo er heute gewesen ist? Eine junge Journalistin spricht in ein Mikrofon, im Hintergrund hocken und liegen ein paar Gestalten, man sieht einen Campingtisch mit einem Pappschild: We become visible. In grüner, kleinerer Schrift darunter: Wir werden sichtbar. Warum hat er die Demonstration dann nicht gesehen? Das erste Brot hat er mit Schnittkäse belegt, nun kommt das zweite, mit Schinken." Leseprobe

Altphilologe trifft Flüchtlinge

Jenny Erpenbeck stellt Richard keineswegs als Heiligen dar. Doch der Gedanke, dass er die Männer nicht bemerkt hat, veranlasst ihn, sich näher mit der Situation der Flüchtlinge zu befassen. Er geht zum Oranienplatz, wo seit einem Jahr Flüchtlinge in Zelten auf ihre Situation aufmerksam machen.

"Er sieht Transparente und Aufsteller mit handgepinselten Parolen. Er sieht schwarze Männer und weiße Sympathisanten. Die Schwarzen in frisch gewaschenen Hosen, bunten Jacken, gestreiften Hemden, hellen Pullovern mit farbigen Schriftzügen, wo wäscht man eigentlich Wäsche auf einem besetzten Platz? Einer trägt goldfarbene Turnschuhe, ist das Hermes?" Leseprobe

Der Altphilologe sieht in den Menschen der Gegenwart oft eine mythologische oder geschichtliche Assoziation. Bald wird Richard die vom Oranienplatz in ein Heim umgesiedelten Männer besuchen und sie genauer kennenlernen. Er gibt ihnen Spitznamen wie Apoll, Tristan oder der Olympier.

"Wohin geht jemand, der nicht weiß, wo er hingehen soll?"

Bei Herodot liest er nach, dass die Griechen die Kunst des Streitwagenlenkens und die Dichtkunst von den Garamanten, den Vorfahren der Tuareg, gelernt haben. Indem er bei den jetzt Heimatlosen ihre jahrtausendealte Geschichte mitdenkt, gibt er ihnen eine ganz eigene Würde. Richard wird die Sache der Asylbewerber zu seiner eigenen Sache machen und dabei viel über sich selbst lernen.

Da das Abkommen Dublin II verhindern wird, dass überhaupt einer der Männer in Berlin bleiben kann, weil sie ihre ersten Asylanträge in Italien oder in Süddeutschland gestellt haben, kommt es für die, die seine Schutzbefohlenen und Freunde geworden sind, zu einer ausweglosen Lage. Die Seiten 328 und 329 enthalten zweimal lediglich diesen Satz: "Wohin geht jemand, der nicht weiß, wo er hingehen soll?"

Jenny Erpenbeck gelingt es mit dieser Geschichte eines Philisters, der erst am Ende seines Lebens versteht, was wirklich zählt, auch jedem Leser das Herz zu öffnen für jene auf dem Bildschirm anonym bleibenden Menschen, die jeder eine individuelle Geschichte haben und deren Not augenblicklich groß ist. Ein Roman von hohem Sachverstand und ganz ohne billige Klischees und Schönfärberei.

Gehen, ging, gegangen

von Jenny Erpenbeck
Seitenzahl:
352 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Knaus Verlag
Bestellnummer:
978-3-8135-0370-8
Preis:
19,99 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 31.08.2015 | 12:40 Uhr

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Romane

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