Helga Schubert: "Vom Aufstehen" © dtv

NDR Buch des Monats März: "Vom Aufstehen"

Stand: 28.05.2021 08:15 Uhr

Helga Schubert ist die literarische Wiederentdeckung des letzten Jahres: Als 80-Jährige gewann sie den Bachmannpreis. Nun ist nach 18 Jahren ohne Veröffentlichung ihr Buch "Vom Aufstehen" erschienen.

von Lenore Lötsch

Der Roman ist nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2021.

"Ich denke nicht, dass ich da ganz große Scheiße abgeliefert habe. Von allen Erzählungen - den Hunderten, die ich in meinem Leben geschrieben habe - ist dieser Text wahrscheinlich der beste." Das sagte Helga Schubert im vergangenen Sommer über ihre Erzählung "Vom Aufstehen", mit der sie ein paar Tage später den Bachmannpreis gewann. Dieses kleine, sinnliche Meisterwerk, 18 Seiten kurz, steht ganz am Ende des Buches. Was folgerichtig ist, denn Helga Schubert bekennt: Sie schreibt von hinten. Jede Erzählung beginnt sie im Kopf mit dem letzten Satz.

Es stimmte, ich hatte von allem genug!
Hauptsache, es geht gut aus!
So etwas kann man sich einfach nicht ausdenken! Leseprobe

29 Erzählungen blättern das Leben von Helga Schubert auf

Ausgedacht ist wenig in diesem Buch. Die 29 Geschichten erzählen größtenteils aus der Ich-Perspektive und blättern das Leben der Helga Schubert auf, aber auch acht Jahrzehnte deutscher Geschichte. Manchmal ist der Ausgangspunkt eine Erinnerung aus der Kindheit: der erste Tag der Sommerferien, den sie immer bei den Greifswalder Großeltern verbringen durfte, in der Hängematte baumelnd, über sich die Klaräpfel, neben sich den duftenden Muckefuck. Noch sieben Jahrzehnte später beschreibt die Autorin diese Erinnerung als den "idealen Ort", der ihr hilft, zu überleben. Helga Schubert ist eine Sammlerin mit reichem Fundus: Sätze, Schicksale und Erinnerungen saugt sie auf und verwandelt sie.

Etwas erzählen, was nur ich weiß. Und wenn es jemand liest, weiß es noch jemand. Für die wenigen Minuten, in denen er die Geschichte liest, in der unendlich eisigen Welt. Leseprobe

Schuberts "Diktaturschaden" von der DDR

Auch wenn es hier anders klingt: Sie ist auf der Hut vor Pathos. Die Autorin nennt es ihren "Diktaturschaden". Das Leben in der DDR hat sie misstrauisch gemacht gegen alle Losungen, alles aufgepumpt Schönklingende. Die Skepsis wirkt auch heute noch, selbst bei Worten wie "Wintersonnenwende".

Die DDR ist wie eine Brandmarke bei einem Zuchtpferd - man hat sie lebenslang. Leseprobe

So antwortet sie dem westdeutschen Germanisten, der sie in einer Schublade gefunden hat mit der Aufschrift "DDR-Schriftstellerin" und sie fragt, ob diese Einsortierung ihr behagt. Das sind nur die kleinen Schrammen; die tiefen Wunden kommen aus der Kindheit. Besonders eindringlich erzählt in "Eine Wahlverwandtschaft" - eine Erzählung wie eine Familienaufstellung. Mit einem totem jungen Vater, er fiel 1941, und mit einer Mutter, die lebenslange Dankbarkeit fordert, weil sie ihre Tochter nicht vergiftet hat 1945, wie der Schwiegervater es wollte.

Ihre Tochter, die von meiner Mutter geschlagen wurde, manchmal einfach, weil sie da war oder hustete oder abends im Bett weinte als kleines Kind. Meiner Mutter schien es, dass dieses Kind unzufrieden mit ihr war. Leseprobe

"Vom Aufstehen": lebensklug, poetisch und sinnlich

In den stärksten Passagen ist dieses Buch lebensklug, poetisch, sinnlich, mal einfach nur das Grauen in kurzen Hauptsätzen erzählend, mal verzeihend. Doch es gibt auch Erzählungen, die eher schwach sind: Wenn die Autorin beispielsweise vom 9. November 1989 berichtet, dann wirkt es eher wie die x-beliebige Schilderung einer Frau, die dabei war.

Das NDR Buch des Monats im Programm

NDR Kultur sendet die Rezension am 18. März 2021, 12.40 Uhr, NDR Info am 18. März 2021 umd 10:55 Uhr. Das NDR Fernsehen am 22. März um 22:45 Uhr im Kulturjournal.

In der titelgebenden Erzählung "Vom Aufstehen" tauchen alle noch einmal auf: die Mutter, der Ehemann und Maler, die Düfte ihres Lebens und die Verletzungen. Diese 18 Seiten sind wie ein hochprozentiger Grappa: alle Pressrückstände ihres Lebens hat Schubert destilliert und in ein schmales Glas gegossen.

Dazu gehören: Das Hinsehen und das Erschrecken, dass in der Welt der Menschen nichts einfach gut oder böse ist, dass jeder, auch die, die schreibt, gut und böse ist, erschöpft und wach, verzeihend und nachtragend, hasserfüllt und liebend, verletzend und verwundbar. Leseprobe

 

Das NDR Buch des Monats

TV, Hörfunk & Internet: Die NDR Kultur Redaktionen von Radio, Fernsehen und Internet wählen jeden Monat ein belletristisches Buch aus, das besonders gut zu Norddeutschland passt, und erklären, warum genau dieses Buch so gesprächswertig ist.

Weitere Informationen

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Lesungen mit Helga Schubert:

  • 18. April: Malerschule Buxtehude
  • 4. Mai: Literaturhaus Hamburg
  • 10. Juni: Literaturhaus Rostock, Moderation: Alexander Solloch (NDR)

Vom Aufstehen

von Helga  Schubert
Seitenzahl:
224 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
dtv
Bestellnummer:
978-3423282789
Preis:
22,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 18.03.2021 | 12:40 Uhr

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