"Vati": Monika Helfers Roman über ihren Vater
Ziemlich genau ein Jahr, nachdem Monika Helfer mit dem Buch "Die Bagage" große Aufmerksamkeit erregt hat, erscheint mit "Vati" ein neuer Roman der Autorin.
Die Geschichte der Familie ihrer Mutter, eine Geschichte von Schönheit, Stolz und Hunger im österreichischen Bergland zur Zeit des Ersten Weltkriegs, war ein immenser Erfolg und stand monatelang in der Bestsellerliste - zur großen Verblüffung von Monika Helfer selbst, die über 70 werden musste, um einmal eine derartige Resonanz auszulösen.
1947 wurde sie in Au in der Region Bregenzerwald geboren, sie lebt heute mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Michael Köhlmeier, in Hohenems bei Dornbirn, nahe der Grenze zu Deutschland. In den vergangenen vier Jahrzehnten hat sie etliche Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht. Beflügelt vom Erfolg von "Die Bagage" hat sie sich gleich wieder an den Schreibtisch gesetzt - und jetzt ist "Vati" da.
Bücher geben "Vati" Halt
Er konnte ohne die Bücher nicht leben und ist an ihnen gestorben. Im Zweiten Weltkrieg, in Russland als junger Soldat, war ihm das rechte Bein abgefroren. Da könnte man leichthin schlaumeiern, die Bücher hätten ihm den Halt geben sollen, den ihm die Realität genommen hatte. Aber so einfach machte er es sich nicht und nicht den Seinen, dieser Mann, der ein Rätsel war und ein Rätsel blieb, manchmal mittendrin in der Bagage und immer auch ganz woanders.
Wir sagten Vati. Er wollte es so. Er meinte, es klinge modern. Er wollte vor uns und durch uns einen Mann erfinden, der in die neue Zeit hineinpasste. An dem eine andere Vergangenheit abzulesen wäre. Untertags und auch nachts denke ich an ihn, wie er da in seinem Lehnstuhl sitzt unter der Stehlampe, rundum die eigenen Kinder und fremde, zum Beispiel die vom Erdgeschoss. Ihr Ball rollt um seine Füße, unter den Stuhl, ihn schreckt es nicht. Er liest. Leseprobe
Warum er die Bücher nicht nur las, sondern sie um sich herum reihte, stapelte und türmte mit erotischer Lust, müssen wir uns selbst ausdenken, weil er es nie erklärt hat. Was gibt es denn zu erklären, könnte er gedacht haben, wenn eh nichts klarer und natürlicher sein könnte! Der Mensch lebt, um mit versonnenem Blick vorm Regal zu stehen und Buchrücken zu streicheln. Das ist dann, bei allem Elend, ein gutes Leben.
Monika Helfer schließt die Lücke in ihrer Familiengeschichte
Monika Helfer schließt ganz organisch die Lücke, die sie in "Die Bagage" gelassen hatte. Da erzählte sie von den Großeltern, Maria und Josef, die vor hundert Jahren ganz am Ende des Bergdorfs in inniger Kameradschaft und tiefer Not zusammenlebten, umwuselt von etlichen Kindern, von denen Josef eines aber nicht als seins akzeptieren kann, die kleine Grete - Monikas Mutter. "'Vati' ist natürlich in meinem Übermut entstanden", erzählt Monika Helfer. "Es ist auch nicht typisch für mich, so schnell hintereinander Bücher zu schreiben, aber als ich 'Die Bagage' fertig hatte, dachte ich, was für eine Ungerechtigkeit gegen die Personen, die eigentlich nur kurz auftauchen und dann wieder verschwinden. Die denken sich: 'Ich müsste auch noch öfter vorkommen!' Besonders mein Vater. Und ich hoffe, dass es besser ist, glaube ich nicht, aber ich hoffe, dass es fast so gut ist", erzählt die Autorin.
"Vati" hat nicht die Magie des Vorgängerromans "Die Bagage". Es wäre auch ein Wunder gewesen. So ein Buch von märchenhafter Wahrheit gelingt selbst einer großen Erzählerin wie Monika Helfer vielleicht nur ein Mal. Was sie, die Meisterin der Kürze, aber wieder schafft, ist bewunderungswürdig genug: das angefochtene Leben eines Menschen so verschwommen schön und kristallklar aufzumalen, dass man alles sieht und nichts davon nachzeichnen könnte, das Taumeln zwischen Himmel und Hölle, das Taumeln auf der Erde.
Nach dem Tod der Ehefrau verlässt der Vater die Familie
Der Himmel ist hier die Tschengla, das Hochplateau in Vorarlberg, wo "Vati" das Kriegsopfer-Erholungsheim verwaltet (vor allem die immer größer werdende Bibliothek, die außer ihm keiner je nutzt), aber unterhalb des Himmels wütet der Tod. Als Grete, seine Frau, dem Krebs erliegt, verliert er den Tritt, verschwindet, lässt die Kinder allein. "Auf eine bösartige Weise", resümiert die Erzählerin, wird noch alles gut, wie das Gute eben nie ohne das Böse zu denken ist.
Wieder tagträume ich und sehe die Farben der Tschengla, das Lilienweiß, Enzianblau, Erdbeerrot. Jeden Tag gehe ich über den Berg, der Schlossberg heißt, von dem meine Tochter gefallen ist, sie war einundzwanzig, seit wenigen Tagen erst einundzwanzig. Ich kann mir Idylle nicht anschauen. Ich kann se nicht einmal denken. Ich will es nicht. Immer ist es, als ob sie gleich zerbricht. Ich bin erleichtert, wenn in einer Ecke etwas unverhofft Hässliches hockt und grinst und höhnt: Siehst du, etwas ganz Schönes gibt es nicht. Leseprobe
Da kann man mild zurücklächeln, weil auch dieses Buch von Monika Helfer zeigt: Aber etwas fast ganz Schönes, das gibt es.
Vati
- Seitenzahl:
- 176 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Hanser
- Bestellnummer:
- 978-3-446-26917-0
- Preis:
- 20,00 €
Schlagwörter zu diesem Artikel
Romane
