Tagebuch: "Stand spät auf, legte mich dann aber wieder hin"
Das Tagebuch ist die "bequemste, zuchtloseste Form" des Schreibens, notierte Robert Musil. Tagebücher sind Schätze, nicht nur die von berühmten Persönlichkeiten.
Im Nachlass des Dichters fand man 30 Kladden, deren Einträge 42 Jahre umfassen: Beobachtungen, Begegnungen, kurze Erzählungen und Vorarbeiten für seinen Roman "Der Mann ohne Eigenschaften."
"Und heute ist mir ein seltsam vorbedeutendes Zeichen zuteil geworden: ich spürte, wie ein Wehen von den Flügeln der Verblödung über mich hinstrich." Leseprobe
Dies schreibt Charles Baudelaire 1862 in sein Tagebuch. Zu einem Zeitpunkt also, als er im literarischen Paris bereits bekannt ist. Gleichzeitig plagen ihn finanzielle Nöte, gesundheitliche Probleme und sein übermütiger Alkohol- und Drogenkonsum. Die privaten Notizen über seine "Verblödung" sind Selbstbeobachtung und zynische Selbstkritik. Eben typisch Tagebuch.
Interessante Alltagsbeobachtungen
Der Literaturwissenschaftler und Autor Rainer Wieland hat für diese Sammlung mehr als 1.000 Einträge von rund 160 Autorinnen und Autoren zusammengetragen. Sortiert sind sie von Neujahr bis Silvester. Nicht nur zu Festtagen eine Gemeinsamkeit: die etlichen, überraschend witzigen Berichte übers Essen.
Auf den Tisch von Walter Kempowski kommt 1983 zum Beispiel: "die berühmte Fleischbrühe von Hildegard, mit der man Tote wieder fit kriegt"
Christiane Goethe findet 1816 kulinarisch erwähnenswert: "Wir aßen Suppe, aufgebratene Wurst und Krautsalat."
Thomas Mann, den 1953 ein Virus erwischt hat, quält sich mit: "Appetitlosigkeit, Mühsal des Essens. Aufgabe der Fleischgerichte. Caviar."
Während der Meister der morbiden Lyrik, Gottfried Benn, 1944 lieber gleich auf Flüssigkeiten setzt: "Morgens schon einen Schnaps trinken - chasser le brouillard." (den Nebel verscheuchen).
Mahlzeiten, Haushalt, Besorgungen, Spaziergänge. Neben kleinen Alltäglichkeiten geben die Tagebuchschreiberinnen und -schreiber nicht nur Einblick in ihr Privatleben, sondern auch in die Zeit, in der sie leben.
Simone de Beauvoir entdeckt im New Orleans der 40er-Jahre den Jazz der Schwarzen für sich. Andy Warhol wird 1977 in Miami auf der Toilette einer Schwulenbar beim Pinkeln von hysterischen Fans erkannt. Harry Graf Kessler, stets Gastgeber der Künstler-Avantgarde, beschreibt 1926 einen seiner berühmten Gäste:
"Einstein majestätisch trotz seiner übergroßen Bescheidenheit und Schnürstiefeln zum Smoking. Er ist etwas fetter geworden, die Augen aber immer noch fast kindlich strahlend und schalkhaft."
Amüsante und erschütternde Einträge wechseln sich ab
Köstlich unterhaltsam sind viele Beiträge, andere dann wieder bitter-traurig. Ein Highlight: Wir erleben die dramatische Expedition des Briten Robert F. Scott zur Eroberung des Südpols - die komplette Mannschaft stirbt.
Manche Passagen erschüttern einen vor allem im Nebeneinander mit anderen: Wenn der damalige NS-Propagandaministers Goebbels über Disneys Schneewittchen urteilt: "Ein künstlerischer Hochgenuss!" und ein paar Dutzend Seiten später folgt ein Tagebucheintrag von Alisah Shek aus dem Konzentrationslager Theresienstadt, als gerade neue Häftlinge ankommen:
"Wie die aussehen. Die Restchen der Massen, die Reste der Menschen. Sie fielen zu Boden - trinken, essen. Der und jener ist gekommen, Namen - Mutter, Tochter, Geliebter von dem und dem. Allen gruselt." Leseprobe
Was fehlt ist der Zusammenhang der einzelnen Passagen
Bei der Auswahl liegt der Fokus auf der Zeit um den Zweiten Weltkrieg. Ein paar mehr Berichte zum Beispiel aus der Zeit der deutschen Teilung und des Mauerfalls wären interessant gewesen. Zu Wort kommen deutlich mehr Männer als Frauen - ebenfalls schade. Dass die einzelnen Tagebücher so kleinteilig zerpflückt sind, macht es beim Lesen etwas holprig und anstrengend.
Auf einen großen Zusammenhang wartet die Leserin vergeblich. Momentaufnahmen sind es vielmehr, die anregen, sich mit der ein oder anderen Biografie noch mal näher zu befassen. "Stand spät auf, legte mich aber dann wieder hin" ist ein imposanter 700-Seiten-Wälzer mit intimen Offenbarungen. Mal historisch kostbar, mal brillant, mal aber auch liebenswert überschwänglich. Arthur Schnitzler 1882:
"Nichts Neues. - Man geht eben ab und zu ins Theater - oder studiert - oder geht ins Café - plaudert über Dinge, die man will und nicht hat, wobei man sich ärgert, oder über Dinge, die man nicht will und doch hat, was einen auch ärgert. Um Himmelswillen! Flammen! Glanz! Entzücken. Ob es nicht beinahe gescheidt wäre, sich zu verlieben."
Stand spät auf, legte mich dann aber wieder hin
- Seitenzahl:
- 704 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Piper
- Bestellnummer:
- 978-3-492-07065-2
- Preis:
- 40,00 €
