Der ehemalige US-Präsident Donald Trump spricht während einer Veranstaltung in Las Vegas, hinter ihm ein großer Schriftzug "Trump". © dpa-Bildfunk Foto: John Locher

Sachbuch "Philosophie der Lüge": Warum lügen wir?

Stand: 15.08.2022 14:51 Uhr

"Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!" - diesen Satz sagt DDR-Staats- und Parteichef Walter Ulbricht am 15. Juni 1961 in einer Pressekonferenz - zwei Monate vor dem Bau der Berliner Mauer. Ein rhetorischer Kniff, so brillant wie perfide: Die Wahrheit kennen und trotzdem ihr Gegenteil sprechen. Der Mensch ist ein Tier, das lügt. Unheimlich gern.

"Zum ersten Mal gelogen habe ich vermutlich mit drei oder vier Jahren", erzählt Lars Svendsen, Autor des Buches "Philosophie der Lüge". Eine Offenbarung für ihn, wie er sagt. "Ich muss nicht die Wahrheit sagen! Was für ein Gedanke. Seitdem habe ich jeden angelogen, zu dem ich eine Beziehung hatte."

Lars Svendsen ist übrigens kein Hochstapler, sondern Philosoph. Der Norweger hat ein Buch über die Lüge geschrieben. Als politisches Instrument und ethisches Problem. "Man braucht keinen Grund dafür, die Wahrheit zu sagen. Aber man braucht einen Grund dafür zu lügen", sagt er.

Warum lügen wir?

Warum lügen wir? Nun, vor allem weil die Wahrheit oft so dröge ist. Die meisten Schwindeleien sind Realitätsschminke. Bagatellen der Höflichkeit oder Erheiterung. Sie machen das Leben leichter, schöner, lassen einen selbst oft besser aussehen. Und doch ist jede Lüge eine gezielte Täuschung. Ein Angriff auf die Wahrhaftigkeit.

Bundeskanzler Scholz und Präsident Putin in Moskau © Screenshot
Bundeskanzler Scholz und Präsident Putin in Moskau im Februar 2022.

Raketen auf die Ukraine. Zerstörung, Tod, durch Lügen legitimiert. Totalitäre Regimes scheuen die Wahrheit. Die methodische, systemische Lüge bildet ihr kommunikatives Rückgrat. "Lügen war im Kreml zuletzt so verbreitet, dass es richtiggehend überrascht, wenn tatsächlich mal jemand die Wahrheit sagt", sagt Svendsen. "Ich denke, Putins Empfangstische sind aus demselben Material gemacht wie Pinocchios Nase. Sie werden mit jeder Lüge länger."

Lügen in der weltweiten Politik - und die Folgen

Ein politisches Instrument, das isoliert. Doch natürlich ist das Spiel mit der Unwahrheit genauso Sache der Demokratien. Jedes Staatsoberhaupt lügt. "I did not have sexual relations with that woman", sagte Bill Clinton am 26. Januar 1998 in einer Pressekonferenz. Geglaubt hat das keiner. Schlimmer als Affären sind Lügen, um einen Krieg zu rechtfertigen. UN-Sicherheitsrat, 2003: Außenminister Powell präsentiert Beweise für Massenvernichtungswaffen im Irak. Kriegsgründe - frei erfunden.

Mit dem dritten Golfkrieg brechen alle Dämme bis hin zu Trump. Der kultiviert das Lügen zum eigenen präsidialen Stil. "Die traditionelle politische Lüge ist eine strategische Lüge mit einem spezifischen Zweck", erklärt Svendsen. "Trump schlug eine ganz neue Richtung ein: Er sagte in jeder Situation einfach immer das, was ihm gerade am vorteilhaftesten schien. So wurde er zum totalen Lügner."

"Lügen schaden der liberalen Demokratie"

Der ehemalige US-Präsident Donald Trump spricht während einer Veranstaltung in Las Vegas, hinter ihm ein großer Schriftzug "Trump". © dpa-Bildfunk Foto: John Locher
Der ehemalige US-Präsident Donald Trump schlägt laut Autor Svendsen beim Lügen eine ganz neue Richtung ein.

Über 30.000 Mal log Trump als Präsident. "Lügen sind antithetisch zu einer liberalen Demokratie", so Svendsen. "Bürger sollten informierte Entscheidungen treffen können. Belügt man sie aber, raubt man ihnen die dazu notwendigen Informationen, Man bringt sie um ihren Zugang zur Realität und damit ihre Fähigkeit frei zu wählen."

Aber wollen wir nicht manchmal sogar belogen werden? Ist die freie Entscheidung immer die richtige? Politpragmatiker Niccolò Macchiavelli sagt: "Der gute Herrscher muss sein Volk mitunter zu dessen besten täuschen. Der gute Lügner erträgt die Wahrheit für seine Nächsten." Letzteres ordnet Svendsen so ein: "Der gute Lügner ist ein ziemlich anmaßender Typ. Denn er sagt: Du verträgst die Wahrheit nicht. Er macht sich zum Richter darüber, was du in deinem Leben schaffst oder nicht. Und ich denke, das sollte man nicht tun."

Wer zu viel lügt, schadet vor allem sich selbst

Alles ist wahr - mit diesem naiven Blick schauen wir aufeinander. Die Annahme, dass wir ehrlich sind, ist die Voraussetzung einer freien Gesellschaft. Jede echte Beziehung ist mehr auf Vertrauen gebaut denn auf Zweifel. Ein fragiles Konstrukt, das sich leicht manipulieren lässt. Wer zu viel lügt, der schadet nicht nur anderen, sondern vor allem sich selbst. "Menschen, die immer wieder lügen, erfahren eine Welt, die ihnen zunehmend unehrlich erscheint. Eine unzuverlässige Welt, in der niemandem zu trauen ist. Wer also regelmäßig lügt, lebt eine ziemlich miese Existenz: Denn dann lebst du in einer Umgebung, in der du auch selbst niemanden mehr vertrauen kannst", sagt Svendsen.

Sachbuch "Philosophie der Lüge"

Das Sachbuch "Philosophie der Lüge" von Lars Svendsen (EAN: 978-3-7374-1336-7) ist im Marix Verlag erschienen, hat 224 Seiten und kostet 20 Euro.

Du sollst nicht lügen - eine moralisierende Maxime. Aber eine, die die Gemeinschaft über den einzelnen stellt. Denn wer im großen Stil lügt, der schadet nicht der Wahrheit - die wird immer bestehen. Er zerstört die Möglichkeit für ein wahrhaftiges Zusammensein.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur - Das Journal | 15.08.2022 | 22:45 Uhr

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