Neue Bücher 2022: Die spannendsten Neuerscheinungen
Spannende Romane, fesselnde Erzählungen: Viele interessante Bücher sind 2022 bereits erschienen und viele spannende Neuerscheinungen kommen noch. Unsere Buchempfehlungen ohne Gefallensgarantie.
Mit "Serge" von Yasmina Reza, "Vernichten" von Michel Houellebecq, "Zum Paradies" von Hanya Yanagihara, "Die Nächte der Pest" von Orhan Pamuk oder "Der Morgenstern" von Karl Ove Knausgård sind einige große Romane bereits in diesem Jahr erschienen. Und viele spannende Bücher kommen noch. Ein Blick auf das Literaturjahr 2022.
"Ewig währt am längsten - Tante Ernas letzter Tanz": Markus Orths beschreibt schwere Themen ganz leicht
"Heimatzähe" empfindet Benno, als er seine Eltern in einem Dorf am Niederrhein besucht. Hier ändert sich nichts, außer dass die Marotten von Mutter und Vater schlimmer werden. Die beste Freundin von Bennos Mutter, das Klärchen, erfindet kurzerhand den Tod der fast hundertjährigen Tante Erna, nur um ein wenig Zeit mit ihrer eigenen Tochter zu verbringen. Die Sache fliegt natürlich auf und führt zu allerlei Verwicklungen.
Markus Orths erzählt diese Geschichte so herzerwärmend und komisch, dass man das Buch in einem Rutsch durchliest. Noch mehr Spaß macht in diesem Fall die Hörbuchfassung: Denn mit Bjarne Mädel liest genau der richtige Schauspieler diesen Text. Großartig!
"Märchen aus meinem Luftschutzkeller" - Urkomischer Roman des Ukrainers Oleksij Tschupa als Lesung
Drastisch und urkomisch erzählt der Ukrainer Oleksij Tschupa von den Konflikten des Vielvölkergemischs in einem Mehrparteienhaus in Makijiwka nahe Donezk. Tschupa nimmt uns mit in ein Mehrparteienhaus in Makijiwka, der Nachbarstadt von Donezk - und hinter jeder Tür erwartet uns eine neue Geschichte seiner Bewohner. Überwiegend Ukrainer wohnen hier unter einem Dach mit russischen, jüdischen und muslimischen Menschen. Politische Aktivisten sind darunter, Kleinganoven, die vermeintliche Nachfahrin des französischen Königshauses, eine verliebte Blumenverkäuferin und ein Schriftsteller, dem schon eine Schlinge um den Hals liegt.
"Liebe ist gewaltig": Aufregendes Roman-Debüt von Claudia Schumacher
"Liebe ist gewaltig" ist ein Buch, das einen Sog entwickelt. Dabei geht es um Gewalt innerhalb der Familie. Juli wächst in einem gutbürgerlichen Haushalt auf, die Eltern sind Anwälte. Doch der Vater verprügelt seine Kinder immer wieder. Das geht soweit, dass der Sohn im Krankenhaus landet und die Tochter einen Suizidversuch unternimmt. Aber Juli ist nicht nur Opfer, sie schlägt auch selber zu und verstrickt sich damit immer weiter in das komplizierte Familiensystem. Claudia Schumacher hat einen dichten Roman geschrieben, mit einer Hauptfigur, die nicht immer nur sympathisch ist. Und sie schreibt so fesselnd, dass man das Buch kaum zur Seite legen kann. Ein überzeugendes, aufregendes Debüt!
"Ein Sommer in Niendorf": Witziger, berührender Roman von Heinz Strunk
Zu Recht hat der Rowohlt-Verlag "Ein Sommer in Niendorf" als eine Art norddeutscher "Tod in Venedig" angekündigt. Strunk ist ein Roman über einen erfolgreichen Anwalt geglückt, der sozial absteigt, indem er in Niendorf bleibt und dort einen Strandkorbverleih übernimmt, aber letztlich zufriedener wirkt als zuvor. Die Sehnsucht nach Glück oder einem Leben mit weniger Ballast - bei Strunk wirken die großen Fragen leichter als bei anderen Autoren. Nicht etwa, weil Strunk oberflächlich wäre, sondern weil er das Existenzielle durch Komik auffängt. Allein die zahlreichen skurrilen Szenen machen diesen Roman lesenswert.
"Fischers Frau" von Karin Kalisa: Scheherazade der Fischerhütten
Der "Star" dieser fantastischen Geschichte sind die Fischerteppiche aus Wolgast, Freest und Greifswald und ihre Historie. Karin Kalisa hat für ihren Roman "Fischers Frau" eine spannende und selbst in Norddeutschland kaum bekannte Geschichte bearbeitet: Mia, die Faserarchäologin aus dem Heute, entdeckt auf dem grün schimmernden Perser von der Ostsee eine Borte mit dem Namen einer Knüpferin aus dem Vorgestern: Nina. Sie schreibt sich in Fahrt, formuliert Anträge im feinsten akademischen Superlativismus, um eine Dienstreise nach Zagreb genehmigt zu bekommen, denn dahin führt Ninas Spur. Das Buch ist ein Forschungsbericht, ein Teppichmuseum zum Abtauchen, ein Märchen, an dessen Ende die Erkenntnis steht, dass etwas nicht unbedingt "echt" sein muss, um dennoch wahrhaftig und keine Fälschung zu sein.
"Mädchen auf den Felsen": Jane Gardams raffinierter Debütroman

Seit ihr kleiner hässlicher Bruder auf der Welt ist, hat die achtjährige Margaret kein schönes Leben mehr. Zwischen ihm, ihrer stillenden Mutter und ihrem predigenden Vater findet sie alles nur noch langweilig. Außer am Mittwoch, wenn sie mit dem neuen Hausmädchen Lydia Ausflüge macht. Lydias Anwesenheit in der Familie birgt Sprengstoff. Denn sie ist anders, handfest und ein wenig vulgär, sie will Spaß und öffnet Margaret die Augen für ein anderes Leben. Das bigotte Gleichgewicht der Familie gerät ins Wanken, und am Ende des Sommers ist nichts mehr, wie es war.
Schon in diesem Debütroman hat Jane Gardam alle Register ihres Könnens gezogen. Sie zeichnet ein Gesellschaftsbild der 30er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts, mit den noch nachwirkenden Grauen des ersten Krieges, undurchdringbaren Klassenschranken und rigiden Religionsvorschriften.
Olga Tokarczuks Roman "Anna In": Ein wunderbarer Ritt
In ihrem Roman "Anna In" knöpft sich die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk einen 4.000 Jahre alten Stoff vor: den Inanna-Mythos. Er ist die Ursprungsversion aller Geschichten über den Abstieg in die Unterwelt und liegt nun in einer Neuübersetzung vor.
Fantasievoll und poppig sind die Welten, die Olga Tokarczuk für ihre Neuintepretation des sumerischen Inanna-Mythos erschaffen hat. Mit der Leichtigkeit und dem Drive eines Computerspiels erzählt sie von Anna Ins Reise in die Unterwelt. Auch die Architektur der Hölle ist beeindruckend - mit ihren Toren und Wärtern, ihren menschlichen Dämonen und schrägen Gestalten. Ein bisschen Fabelwelt-Ästhetik wie beim legendären Maler Hieronymus Bosch. Düster ist das Setting, aber keinesfalls gruselig.
"Die Stimme" - Pageturner der niederländischen Autorin Jessica Durlacher
Die Geschichte beginnt vor dem Hintergrund des Anschlags vom 11. September auf das New Yorker World Trade Center. An diesem Tag lassen sich die Protagonisten Zelda und Bor trauen. Zusammen mit ihren Kindern können sie sich retten, werden aber schwer traumatisiert und kehren in die Niederlande zurück.
Dort stellen sie die Somalierin Amal als Kindermädchen ein. Die junge, hübsche Frau verfügt über ein enormes Gesangstalent. Bei einem Auftritt in der Talentshow "Die Stimme" nimmt sie vor laufenden Kameras ihr Kopftuch ab. Fortan wird nicht nur Amal bedroht, sondern auch die Familie, für die sie arbeitet. Ein starkes, intensives Leseerlebnis und eine Geschichte über Loyalität und Engagement.
"Der Schlaf in den Uhren" - Uwe Tellkamps neuer Roman
2008 erschien der Roman "Der Turm" von Uwe Tellkamp. Das Buch wurde mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet und der Autor wegen seines erzählerischen Talents sogar mit Thomas Mann verglichen. Seit einigen Jahren steht Tellkamp allerdings wegen verschiedener politischer Äußerungen in der Kritik.
Jetzt ist die lang erwartete Fortsetzung des "Turms" erschienen - über 900 Seiten stark. Hauptfigur ist Fabian Hoffmann, die Handlung ist in Treva angesiedelt, einem fiktiven Stadtstaat. Viele verschiedene Erzählebenen, Rückblenden auf die Zeit des Mauerfalls und zahlreiche Anspielungen auf den heutigen Literatur- und Medienbetrieb: Uwe Tellkamp hat sich viel vorgenommen. Leider verirrt sich der Autor in seinem Roman-Labyrinth und die Lektüre wird als "anstrengend, oft qualvoll" wahrgenommen.
"Die letzten Tage unserer Väter" - Joël Dickers gelungener Debütroman
Paul-Émile ist 22, als er Paris verlässt. Heimlich. Wenige Monate zuvor, im Juni 1940, haben die Deutschen die französische Hauptstadt erobert. Er will sein Land verteidigen. Der junge Mann wird sich in London einer von Churchill ins Leben gerufenen, geheimen britischen Spionageeinheit anschließen und seinen Vater zwei Jahre lang weder sprechen noch sehen.
Es ist ein spannendes und nur wenig bekanntes Kapitel der Geschichte, das Autor Dicker hier aufschlägt. Kameradschaft, Freundschaft, Liebe, Solidarität und Verrat - das sind die großen Themen in diesem Roman, der sich erkennbar wie ein Debüt liest. Schon hier wird deutlich, wie packend Joël Dicker schreiben, wie plastisch er Figuren entwickeln kann, wie genau er recherchiert.
"Lenin auf Schalke": Gregor Sanders Roman über das Ruhrgebiet
Auch wer noch nie in Gelsenkirchen war, bringt die Stadt im Ruhrgebiet mit dem Bergbau in Verbindung und mit Schalke 04 in Verbindung. Beides hat Gregor Sander bei seiner literarischen Exkursion in den Westen ganz bewusst außen vor gelassen.
Sander hat das Gelsenkirchen von heute interessiert und die Frage, warum eigentlich immerzu über den Osten Deutschlands geschrieben wird und ob es sich nicht lohnen würde, die Perspektive mal umzudrehen. Sympathisch selbstironisch beschreibt Sander seine fiktive Forschungsreise ins Ruhrgebiet, bei der auch viele Aspekte anklingen, über die es sich tatsächlich lohnen würde, ernsthaft nachzudenken.
"Haus in Flammen" von Mischa Kopmann - Roman über das Verschwinden
Drei junge Erwachsene stehen im Mittelpunkt dieses Romans: Lias, Minnigk und Yvette. Gemeinsam demonstrieren mit "Fridays For Future" gegen den Klimawandel. Doch das reicht ihnen bald nicht mehr. Sie radikalisieren sich in der Gruppe "Dead Loss Brigade", befreien Tiere aus Laboren und zünden Gebäude an.
Parallel erzählt Mischa Kopmann in seinem dritten Roman die Dreiecks-Liebesgeschichte seiner Protagonisten. Damit ist die Eskalation auf allen Ebenen vorprogrammiert - das Ganze geht natürlich nicht gut aus. Kopmanns Erzähl-Stil in diesem Buch ist eher ungewöhnlich: Die Szenen sind lose aneinandergereiht, nicht immer chronologisch - aber immer sehr gut lesbar und hochaktuell.
"RCE #RemoteCodeExecution" - Zweiter Teil von Sibylle Bergs Nerd-Trilogie
Es ist eine dystopische Welt, die Sibylle Berg beschreibt: Viele Gebiete der Welt sind nicht mehr bewohnbar, die Bevölkerung ist komplett verarmt - vor allem, weil nur noch die Computerbranche Menschen beschäftigt. In dieser Welt, die komplett überwacht wird, müssen sich fünf junge Nerds zurechtfinden und planen den digitalen Umsturz mit zweifelhaften Mitteln.
"RCE" ist der zweite Teil einer Trilogie, die 2019 mit "GRM" begann. Das Buch lässt sich aber auch lesen, ohne den Vorgänger zu kennen. Der Roman hat zwar den typischen düsteren Sibylle-Berg-Sound, verliert sich aber oft zu sehr in den Technik-Details dieser Zukunft. Zu kurz kommen die Dialoge und Charaktere - eigentlich die Stärke von Sibylle Berg. Für Fans der eigenwilligen Autorin ist "RCE" aber sicher trotzdem ein must-read.
"Eine Frage der Chemie" von Bonnie Garmus
Mögen Sie üppig ausgestattete Fernsehserien, die in den 1960er-Jahren spielen? "Das Damengambit" oder "Mad Men"? Dann sollten Sie sich den Roman "Eine Frage der Chemie" von Bonnie Garmus nicht entgehen lassen. Hauptfigur ist Elizabeth Zott, die als Chemikerin an einer Uni Karriere machen möchte. Doch daraus wird nichts.
Durch Zufall wird sie als Moderatorin einer Fernseh-Kochshow entdeckt. Im Laborkittel mit einem Bleistift im Haar erklärt sie amerikanischen Hausfrauen, was Kochen und Chemie gemeinsam haben - und verhilft ihnen ganz nebenbei zu mehr Selbstvertrauen. Unangepasst, klug und wortgewandt - Elizabeth Zott schließt man gleich nach den ersten Seiten ins Herz. Ein beachtliches Debüt von Bonnie Garmus, das gerade weltweit gefeiert wird.
"Eine andere Zeit": Über das Weggehen und Wiederkommen
Ein abgelegenes Dorf in Mecklenburg-Vorpommern: In diesem Mikrokosmos spielt die Geschichte über die Schwestern Enne und Suse, die in den 1970er-Jahren hier aufwachsen. Helga Bürsters kennt das Dorf Kamp gut. Hier käme alles vor, was sie für ihre Geschichte brauche, so die Autorin. Mit einer klaren, schnörkellosen Sprache schildert sie das Leben der Schwestern und ihrer Eltern in der DDR.
Während es Enne als junge Erwachsene nach Berlin zieht, will die stille, etwas seltsame Suse im Heimatdorf bleiben. Doch dann verschwindet sie spurlos, als sie mit ihrem Freund am Tag der Grenzöffnung im August 1989 nach Ungarn reist. Ihre Mutter stirbt vor Kummer, und Enne kehrt zurück nach Kamp. "Eine andere Zeit" ist ein stiller, berührender Roman über Verluste, über das Weggehen und Wiederkommen.
Karl Ove Knausgård: "Der Morgenstern" - Auftakt zu fünfbändiger Reihe
Der norwegische Autor Karl Ove Knausgård hat der autofiktionalen Literatur einen ganz neuen Anstrich gegeben. Er ist dadurch zu einem international erfolgreichen Schriftsteller geworden. Sein neuer Roman "Der Morgenstern" erscheint gleichzeitig in 35 Sprachen. Der Literaturprofessor Arne beobachtet, dass Tiere sich in Massen versammeln. So wie man das aus Horrorfilmen kennt. Gelenkt werden die Tiere, wie es scheint, von einer seltsamen Lichterscheinung am Himmel. Die wiederum entdecken Arne und acht weitere norwegische Ich-Erzähler. Ist das ein Morgenstern? Oder etwas völlig Unbekanntes, gar Bedrohliches?
Karl Ove Knausgård bricht ganz bewusst mit rationalen Erwartungen. Die Erzählstränge der meisten Ich-Erzähler sind, wenn überhaupt, nur locker miteinander verbunden. Die Figuren reichen von einer Pfarrerin, die Nächstenliebe predigt, aber im Privaten lieber noch mal von vorne anfangen würde, über einen Mann, der an seiner bipolaren Frau verzweifelt, bis zu einem Journalisten. In "Der Morgenstern" sehnen sich die Figuren nach einem Neuanfang. Karl Ove Knausgård ist ein zugleich treffend realistischer und faszinierend entrückter Roman geglückt, der den Auftakt zu einer fünfbändigen Reihe bildet.
"Dschinns": Fatma Aydemirs intensiv erzählter Familienroman
Eigentlich wäre es die Erfüllung eines Traums gewesen: Hüseyin, der dreißig Jahre lang als "Gastarbeiter" in Deutschland geschuftet hat, wollte seine Familie in der neuen Istanbuler Eigentumswohnung empfangen und alle wieder zusammenführen. Doch dann kommen sie nur noch zu seiner Beerdigung: Herzinfarkt.
Zurück bleiben Mutter und vier Kinder sehr verschiedenen Charakters. Fatma Aydemir widmet Hüseyins vier Kindern Ümit, Sevda, Peri und Hakan sowie seiner Frau Emine in "Dschinns" jeweils ein eigenes Kapitel. Durch diese grundverschiedenen Charaktere hindurch fächert sich ein Gefühls- und Gesellschaftspanorama auf, das zu Herzen geht.
"Die Arbeit der Vögel": Marica Bodrožić zeichnet Seelenzustände nach
Drei Jahre lang hat Marica Bodrožić an ihrem Buch "Die Arbeit der Vögel" geschrieben. Darin folgt sie dem Weg des jüdischen Philosophen Walter Benjamin an den französisch-spanischen Grenzort Port-Bou, an dem er sich auf der Flucht vor den Nationalsozialisten das Leben nahm.
Bodrožić - selbst einst aus Dalamatien nach Deutschland gekommen - versucht, sich in Benjamins Erfahrung von Flucht und Vertreibung einzufühlen. Auch die Schicksale anderer Intellektueller, die im 20. Jahrhundert Gewalt erfuhren, fließen mit ein. "Seelenstenogramme" heißt das Buch im Untertitel - verpackt in eine poetisch-prosaische Sprache. Ein Plädoyer für das Menschliche, das durch den Krieg in der Ukraine eine neue Aktualität erfährt.
Delphine de Vigan: "Die Kinder sind Könige" - über Ausbeutung und Missbrauch
Als sie 17 Jahre alt war, wollte Mélanie in einer Fernsehshow mitmachen, die damals ein Millionenpublikum erreichte. Sie wurde zu einem Casting eingeladen, posierte leicht bekleidet - und aus dubiosen Gründen kam sie in die nächste Runde der Sendung "Loft Story". Der Erfolg von Mélanie in jener Show war damals nicht groß. Aber 18 Jahre später hat sie begriffen, wie man berühmt und reich werden kann: Sie hat inzwischen zwei Kinder, deren Leben sie filmt.
Diese kleinen Videos stellt sie ins Internet. Sie hat unglaublich viele Follower und bekommt sehr viel Geld für Werbeblöcke. Doch dann verschwindet ihre Tochter Kimmy spurlos und die Kriminalpolizei nimmt Ermittlungen auf. Delphine de Vigan - eine der kraftvollsten französischen Gegenwartsautorinnen - erzählt, wie Kinder ausgebeutet und missbraucht werden, nicht irgendwo in der Ferne, sondern mitten unter uns.
"Nebenan": Kristine Bilkaus Roman spielt am Nord-Ostsee-Kanal
Dieses Buch der Hamburger Autorin spielt im Norden - am Nord-Ostsee-Kanal. Dort verschwindet von einem auf den anderen Tag eine Familie spurlos. Die Nachbarn machen sich ihre Gedanken. Gleichzeitig erhält eine Ärztin kurz vor dem Ruhestand Hassbotschaften, nachdem sie zu einem nächtlichen Notfall gerufen wurde. Und eine große Menge Mikroplastik wird angespült.
Es sind viele Themen, die Kristine Bilkau anschneidet. Oft geht es nur um scheinbar kleine Verschiebungen, die jedoch Unwohlsein und Ängste auslösen, hinter denen etwas Größeres steht. In welchen familiären, in welchen gesellschaftlichen Räumen fühlen wir uns (noch) sicher? Wie finden wir zueinander? Nach "Eine Liebe in Gedanken" und "Die Glücklichen" wieder ein leiser, feiner Roman von Kristine Bilkau.
"Das mangelnde Licht": Vier Freundinnen in den Wirren des georgischen Bürgerkriegs
Es ist bereits der dritte Georgien-Roman der in Tblissi geborenen, seit vielen Jahren in Deutschland wohnenden Autorin Nino Haratischwili. Wieder stehen starke Frauenfiguren im Mittelpunkt, vier Freundinnen, die erwachsen werden in einem durch Bürgerkrieg und Mafia-Banden geprägten Land. Teilweise geht der Riss durch die Familien, Männer haben das Sagen, denen ein Menschenleben oft wenig gilt.
Nino Haratischwili erzählt von Mord, Kälte und Todesangst, von Zwangsverheiratung und Vergewaltigung, aber auch von leidenschaftlicher Liebe, tiefer Freundschaft und Zärtlichkeit. Neben den vier Freundinnen gibt es viele, den Leser:innen nahe kommende, prall gezeichnete Figuren. „Das mangelnde Licht“ ist ein furioser Roman, in dem viel Schatten ist, aber am Ende wird es tatsächlich hell.
"Auf der Straße heißen wir anders": Familiengeschichte zwischen Bremen-Nord und Armenien
Hauptfigur in Laura Cwiertnias Romandebüt ist Karlotta, genannt Karla. Sie wächst in Bremen-Nord auf: Einem ungemütlichen Ort mit vielen Betonbauten, eine sogenannter "Problem-Stadtteil" mit Menschen aus allen Teilen der Welt. Auch Karla hat eine Migrationsgeschichte: Ihre Großmutter kam vor vielen Jahren allein aus Armenien nach Deutschland. Nach dem Tod der Oma begeben sich Karla und ihr Vater Avi auf Spurensuche - in Yerewan, der Hauptstadt Armeniens.
Der Roman wechselt mühelos zwischen den Zeitebenen und erzählt, welche Traumata die Armenier einst zu erleiden hatten. Wie sich das auf eine Familie und auf nachfolgende Generationen auswirkt - das ist ein Thema dieses "fabelhaften, Augen öffnenden Romans" von Laura Cwiertnia.
"Die Nächte der Pest" - neuer Roman von Orhan Pamuk
Das Szenario in Orhan Pamuks neuen Roman mutet seltsam aktuell an: Auf der Insel Minger bricht eine ansteckende Krankheit aus. Damit sie sich nicht weiterverbreitet, wird sie abgeriegelt. Aber die Krankheit heißt nicht Corona und der Roman spielt 1901. Was als Historien-Roman beginnt, bekommt plötzlich krimihafte Züge.
Der oberste Gesundheitsinspektor des Osmanischen Reichs, Bonkowski Pascha, wird tot aufgefunden. Nach der Ermordung Bonkowskis kommen andere Abgesandte des Sultans: der Quarantäne-Experte Doktor Nuri und dessen Frau Pakize, die Nichte des Sultans. Sie sollen den Mord aufklären und zugleich die Pest bekämpfen.
"Der Erinnerungsfälscher": Abbas Khiders Hymne auf die Heilkräfte der Literatur
Abbas Khider stellt seinem neuen Buch "Der Erinnerungsfälscher" ein Motto von Klaus Mann voran: "Es ist kein Verlass auf die Erinnerung, und dennoch gibt es keine Wirklichkeit außer der, die wir im Gedächtnis tragen." Seinen Helden Said Al-Wahid schickt er auf eine Reise in die Heimat Bagdad, es muss schnell gehen, denn die Mutter liegt im Sterben.
Je näher er seinem Ziel kommt, desto mehr Erinnerungen drängen sich in sein Bewusstsein, an Momente der Kindheit, an die Jahre der Flucht durch arabische Länder, an schwierige Zeiten als Asylbewerber in Deutschland. Doch welche davon sind wahr? Was hat das Gedächtnis aussortiert? Was ist das überhaupt: Erinnerung? Khiders kleines Buch ist eine Hymne auf die Kraft der literarischen Erfindung, auf die Heilkräfte der Literatur.
"Serge": Yasmina Rezas illusionsloser Blick auf den Menschen
Yasmina Reza lässt in ihrem neuen Roman "Serge" vier Angehörige einer jüdischen Familie, die ohne ein Bewusstsein ihrer Herkunft aufgewachsen sind, nach Auschwitz reisen. Dabei urteilt sie nicht moralisch, sondern wirft einen illusionslosen Blick auf den Menschen.
Urkomische Dialoge geben den Ton an. Und weniger die grauenhafte Vergangenheit als die eigene Vergänglichkeit der Protagonisten, das Altern und die Einsamkeit, stehen im Mittelpunkt. Rezensentin Anna Hartwich stellt fest: Eine Erinnerung, die nicht mit einem selbst verbunden ist, muss folgenlos bleiben.
"Zum Paradies": Hanya Yanagihara über Liebe, Schmerz und Freunde
Bereits am 11. Januar ist Hanya Yanagiharas neues Buch "Zum Paradies" erschienen. In den Jahren 1893, 1993 und 2093 spielt der mit Spannung erwartete neue Roman der amerikanischen Autorin und ist so gleichzeitig eine Art historischer Roman und eine Dystopie.
Alle drei Romanteile spielen in ihrer eigenen Lebenswelt. Das verbindende Element ist der Handlungsort: Ein Haus in New York am Washington Square. Natürlich geht es aber auch um Liebe, Schmerz und Freunde - wie schon in ihrem Besteller "Ein wenig Leben". Kunstvoll erzählt, aber manchmal nicht leicht zu ertragen.
"Vernichten": Neuer Roman von Michel Houellebecq
Paul Raison ist engster Vertrauter des französischen Wirtschaftsministers Bruno Juge. Der brillante Politiker steht einerseits im Zentrum diffuser Drohszenarien, die eine rätselhafte Gruppe von Cyber-Terroristen im Netz versteckt, andererseits spielt er an der Schwelle zu den Wahlen 2027 eine entscheidende Rolle in den postdemokratischen Überlegungen des scheidenden Präsidenten.
Aber nicht nur die Arbeit, auch das Privatleben von Paul Raison ist mit ehelichen Problemen und einem Vater mit Schlaganfall alles andere als einfach. Der neue Roman des Franzosen Michel Houellebecq ist wieder einmal ein Zaubertrank, ein großes Erzählkunstwerk, das im allgemeinen menschlichen Elend doch die Möglichkeit einer Insel aufblitzen lässt. Das Buch ist am 11. Januar bei DuMont erschienen.
"In Flammen": Paul Austers flammende Hommage an US-Autor Stephen Crane
Der 1900 verstorbene US-Autor Stephen Crane ist vor allem bekannt für seinen Bürgerkriegsroman "Die rote Tapferkeitsmedaille", eine Art Pflichtlektüre an US-Schulen. Ernest Hemingway hat ihn bewundert. Schriftsteller Paul Auster hatte ihn in der Schule gelesen und entdeckte das bewegte Leben dieses vergessenen Autors ein halbes Jahrhundert später wieder.
Crane war das 14. Kind von Methodisten und war Kriegsreporter. Er hat Lyrik und Novellen geschrieben und in seinen Romanen die Konventionen von Balzac über den Haufen geschmissen. Gestorben ist er mit nur 29 Jahren an Tuberkulose in der Nähe des Schwarzwaldes. Wie Crane stammt auch Paul Auster aus Newark - und hat seinem Landsmann eine flammende 1.200-Seiten umfassende Biografie geschrieben: "In Flammen - Leben und Werk von Stephen Crane". Es ist am 24. Januar bei Rowohlt erschienen.
J. M. G. Le Clézio: "Bretonisches Lied" - Autobiografisches aus der Bretagne
Der Literaturnobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio, geboren 1940 in Nizza, erinnert sich an seine Kindheit und Jugend, vor allem: an die regelmäßigen Familienurlaube in der Bretagne. Aber er besingt nicht nur die berückende Schönheit Nordwestfrankreichs, denn immer mischt sich auch der Krieg in sein Lied und die Angst des Jungen vor den Deutschen.
Jessica Durlacher: "Die Stimme" - Selbstbefreiung einer jungen Frau
Endlich wieder ein neuer Roman von Jessica Durlacher, der kraft- und geheimnisvollen Meistererzählerin aus den Niederlanden! In ihrem neuen Roman geht es um die Selbstbefreiung einer jungen Frau aus den Fesseln der Tradition. Ihre Stimme spielt dabei eine entscheidende Rolle.
Lize Spit: "Ich bin nicht da" - zweiter Roman um eine Paarbeziehung
Die Autorin (Jahrgang 1988) gilt in ihrer belgischen Heimat als literarische Sensation. Ihr Erstling "Und es schmilzt" stand über ein Jahr auf der Bestsellerliste und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Auch in ihrem zweiten Roman geht es wieder ans Eingemachte: Ein Paar, das mit einer psychischen Erkrankung fertig werden muss, steht im Mittelpunkt. Äußerst packend erzählt!
