Julia Franck schreibt über ihre Jugend in Schleswig-Holstein
Die Schriftstellerin Julia Franck war zu Gast bei der NDR Reihe "Der Norden liest". Sie stellte im Literaturhaus in Kiel ihren neuen Roman "Welten auseinander" vor.
Julia Franck kommt rechtzeitig und mit einem offenen Lächeln ins Literaturhaus Schleswig-Holstein in Kiel: Sie sei mit "Welten auseinander" gerade in Amsterdam gewesen und würde die Wiedereröffnung des Kulturlebens genießen. Dabei bekennt sie sich zu ihren "schlotternden Knien in den ersten Jahren" und sei noch immer aufgeregt "vor größerem Publikum“, was man dann alles nicht merkt. "Ich bin tatsächlich niemand, der Menschenmassen liebt", gibt Franck zu. "Jetzt, in so einer glücklichen Konstellation, mit einer Schauspielerin, die für mich die Lesung bestreitet, lässt es mich natürlich viel sicherer fühlen, als wenn man ganz allein auf einer Bühne sitzt und alles ganz allein machen muss."
Julia Francks Buch spielt in Norddeutschland
Ihr neues, stark autobiografisches Buch spielt in wesentlichen Teilen in Norddeutschland, in Schleswig-Holstein und dort in Schacht-Audorf bei Rendsburg, genau 30 Kilometer entfernt von Kiel. Hat sie noch Erinnerungen an den Ort am Nord-Ostsee-Kanal, wo sie 1979 nach der Ausreise aus der DDR landete und wo ihre Mutter als Schauspielerin mit vier Töchtern ein alternatives Leben auf einem alten Bauernhof führen wollte? Ja, sagt sie: "Ich würde den alten Schulweg von Schacht-Audorf nach Rendsburg über die Fähre und durch den Krähenwald im Schlaf finden. Dieses räumliche Gedächtnis aus der Kindheit ist bei mir scharf ausgeprägt. Das hat vielleicht was mit den vielen Umzügen zu tun. Dadurch, dass wir so oft Orte, Schulen, Wohnungen gewechselt haben, ist meine Erinnerung ans Räumliche auch sehr gut noch."
"Welten auseinander" erzählt von einer Liebesbeziehung
Die Lesung wird von NDR Redakteur Ulrich Kühn eröffnet: "Unsere Herbsttour führt heute an den Rand des Meeres, nach Kiel. Und sie führt in die Tiefsee der Erinnerung. Dorthin, wo wir mit besonders starker Lampe und großem Mut leuchten müssen, wenn wir Wirklichkeit erkennen und unsere eigene Geschichte in ihr."
Erzählt wird von einer Liebesbeziehung, die über 369 Seiten den Text klammert und die ersten zwei Jahrzehnte eines bewegten, zerrissenen, nach Orientierung suchenden Lebens umschließt. Mit der Schauspielerin Kathrin Wehlisch vom Berliner Ensemble hatten Verlag und Autorin ein ausgesprochen glückliches Händchen. Sie findet an diesem Abend für das bewegende Buch genau den richtigen, weichen, einfühlsamen Lese-Ton.
"Als Stephan mir im ersten Jahr unserer Liebe den gelbgoldenen Ehering seiner verstorbenen Großmutter über den Finger schob, damit ich ihn auf unabsehbare Zeit trüge, nahm ich meinen Findling vom Finger - und gab ihm diesen im Gegenzug. So trugen wir jeder den Ring des anderen, mit seiner jeweiligen Geschichte. Das gezielte Vergessen ist uns nicht möglich, unseren Körpern so wenig wie unseren Seelen. Was wir nicht verstehen, fesselt uns." Zitat aus der Lesung
Julia Francks chaotische Jugend
Sucht der Text am Anfang noch ein bisschen die erzählerische Richtung, nimmt er spätestens Fahrt auf, als sich das chaotische Leben von Julia Franck ausbreitet: mit Ausreiseantrag, Wartezeit im Notaufnahmelager Marienfelde, Übersiedlung nach Schleswig-Holstein. Das alles geschieht ohne Vater, dafür mit einer sozialhilfebedürftigen Mutter, die lange schläft, auch mal nackt durch den Garten tanzt und die Kinder auf sich alleine stellt, weshalb die 13-jährige Julia Franck 1983 allein nach Berlin, diesmal nach West-Berlin zurückkehrte. Eine "Selbstlebensaufschreibung“ nennt Moderator Ulrich Kühn das dann auch.
Julia Franck erzählt, sie habe lange nach dieser Erzählform gesucht: "Es gibt in der angelsächsischen, auch in der skandinavischen Literatur diese hybride Form zwischen dem 'personal essay', dem Memoire und der Literatur schon lange, seit Jahrzehnten. Der Umgang mit eigenem Erinnerungsmaterial [...] da hatte ich so unmittelbar kein Vorbild und wusste am Anfang auch nicht, ob es funktionieren wird."
Buch thematisiert auch das Wesen der Erinnerung
Es habe drei Versionen von "Welten auseinander" gegeben, erzählt Julia Franck. Und es wären wahrscheinlich mehr geworden, fügt sie hinzu, wenn sie nicht entschieden hätte, dass es reiche. Erinnerungen ändern sich, sagt sie und wenn sie hochemotional besetzt seien sowieso. "Insofern ist es auch ein Buch darüber, wie man zur Sprache kommt. Oder wie sich eine Erinnerung aus Gedächtnis, aus Dokumenten, aus Überlieferungen, Legenden, Mythen gestaltet.", so Franck.
Als für das Buch wichtige, zentrale Figur erscheint Julia Francks Großmutter, die Bildhauerin Ingeborg Hunzinger. Auch sie erzieht ihre Kinder ohne Vater, vermittelt dabei Stärke und ein selbstbestimmtes Leben. Aber auch bei ihr ist der künstlerische Duktus nicht alles. Da gibt es zum Beispiel diese Einverständnis-Erklärung mit der Stasi und eine manchmal gar nicht omahafte Härte.
Tagebuchnotizen lassen die alte Gefühlswelt aufleben
Auf die Frage, wann ihr bewusst wurde, dass es bei ihr zu Hause ein bisschen anders gewesen sei, als bei anderen, antwortet die Autorin schließlich: "Ich glaube, genau in diesem Alter, in dem jeder Mensch findet, etwas ist bei mir oder meiner Familie anders: Das ist diese Vor-Pubertät. Es traf sich genau mit dieser Zeit, wo wir nach Schleswig-Holstein kamen. Aber nach dem ersten Jahr begann ich, Tagebuch zu schreiben."
Hier schlug sich ihre Not, Chaos und Sehnsüchte nieder. Dieser Blick habe ihr beim Schreiben geholfen, auch um vereinfachende Zuschreibungen zu vermeiden. Dieses schmerzhafte, manchmal wilde und auch schamhafte Leben erzählt Julia Franck in berührender Art. Anderthalb Stunden gebannte Stille, mit danach begeisterten Zuhörern.
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