Cover des Buches "Gesichter" von Tove Ditlevsen © Aufbau Verlag

"Gesichter": Tove Ditlevsen entführt in die Abgründe der Psyche

Stand: 16.02.2022 13:10 Uhr

Die dänische Schriftstellerin Tove Ditlevsen macht gern ihr eigenes Leben zum Thema. Jetzt ist ihr ebenfalls autofiktionaler Roman "Gesichter" aus dem Jahr 1968 in einer Neuübersetzung erschienen.

von Juliane Bergmann

Inzwischen fehlt jede Wärme in der festgefahrenen Ehe von Lise und Gert. Während er sich ohne Reue mit anderen Frauen vergnügt, hat sie, die berühmte Schriftstellerin, seit zwei Jahren kein Wort mehr geschrieben. Eine Krise, die sie nicht nur beruflich, sondern auch mental aus der Bahn wirft.

Nur wenn sie schrieb, drückte sie sich selbst aus, und ein anderes Talent besaß sie nicht. Gert hatte ihren Ruhm als persönliche Beleidigung aufgefasst. Er behauptete, er könne nicht mit einem Stück Literatur ins Bett gehen, betrog sie mit großem Eifer und berichtete ihr ausführlich von seinen Eroberungen. Es hatte sich angefühlt, als wäre sie in ein Eisloch gefallen, denn damals liebte sie ihn noch. Leseprobe

Dieses Damals ist lange her. Von Anfang an spüren wir das Düstere und Hoffnungslose in Tove Ditlevsens Roman "Gesichter". Sprachlich nervt zunächst die Vielzahl an Metaphern im Text. Konstruierte Vergleiche reihen sich aneinander. Da sind "Gedanken wie Vögel", "ein Geräusch erreicht sie wie durch Wolldecken", "Mitleid streifte sie wie ein Leuchtfeuer auf fernen Wellen". Diese Marotte verliert sich zum Glück bald.

Fluchtversuch per Überdosis

Lise, die Protagonistin, fühlt sich gefangen in ihrem Haus, in dem sie mit drei Kindern, dem distanzierten Ehemann und der distanzlosen Haushälterin lebt, die natürlich auch mit dem Gatten schläft. Lise misstraut den Menschen und ihren Gesichtern, sie geht nicht mehr vor die Tür. Und dann beginnt sie, zu halluzinieren und hört Stimmen: in Wasserrohren, Heizkörpern, Kopfkissen. Was für eine Ironie: Um sich aus dem vermeintlich bedrohlichen Zuhause zu befreien, täuscht sie ihren Suizid vor und nimmt eine beachtliche Menge an Schlafmitteln, an der sie fast stirbt.

Und sie dachte daran, dass sie bald in einem weißen Bett liegen und von friedlichen und freundlichen Frauen umgeben sein würde, mit denen sie leise über die Männer und die Liebe sprechen konnte. An diesem neuen Ort wären die Grausamkeiten vorbei. Leseprobe

analytischer Blick auf eine Psychose

Doch die ersehnte Ruhe kehrt nicht ein. Im Krankenhaus verstärken sich Lises Wahnvorstellungen. Sie wird aggressiv und kommt in eine geschlossene Abteilung, stets ans Bett fixiert. Eine beklemmende Welt ist es, die die dänische Autorin in diesem Buch beschreibt. Kühl ist der Ton. Die Figuren bleiben uns fern. Selbst Lise betrachten wir eher mit distanzierter Sorge als mit Mitgefühl.

Ihre Verdrehung der Wirklichkeit ist der Leserin in allen Momenten klar. Nie fragt man sich, was wahr ist und was nicht. Vielmehr: Woher kommt die falsche Wahrnehmung? Es ist weniger ein emotional mitreißender, dafür ein interessanter analytischer Blick auf ihre Psychose. Wir lesen von einer Frau, der alles entgleitet. Ihr einziger Rettungsanker: kleine Gedichte, die sie in ein Büchlein schreibt.

Es regnet in allen Straßen
und auch in meinem Herzen.
So weit ich auch fuhr übers Land
meinen Frieden ich nie fand. Leseprobe

Ein menschliches Buch, das in die Abgründe der Psyche führt

Wie so oft erzählt Tove Ditlevsen auch in diesem 1968 veröffentlichten Roman ein Stück weit von sich selbst. Sie kannte die Schwere einer schwierigen Liebe, Medikamentensucht, Psychosen, Selbstmordgedanken, die 1977 zu ihrem Suizid führten. Gleichzeitig fängt das Buch die Atmosphäre im Dänemark der 60er Jahre ein: von patriarchalen Strukturen bis hin zur fragwürdigen Behandlung von psychisch Kranken.

So hat es Lises Psychiater Jørgensen tatsächlich gegeben. Er hat damals ohne Einwilligung LSD-Versuche an seinen Patienten vorgenommen. Lises Angst, man mische ihr Gift ins Klinikessen, klingt dann doch nicht mehr so verrückt. Ein Buch, das in die Abgründe der Psyche führt: dunkel, bedrohlich – und dann wieder ganz menschlich.

"Ich hatte ein solches Bedürfnis danach, neue Gesichter zu sehen", sagte sie aufrichtig. Leseprobe

 

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Gesichter

von Tove Ditlevsen, übersetzt aus dem Dänischen von Ursel Allenstein
Seitenzahl:
160 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Aufbau Verlag
Veröffentlichungsdatum:
14. Februar 2022
Bestellnummer:
978-3-8412-2947-2
Preis:
20,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 17.02.2022 | 12:40 Uhr

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