Elena Ferrante über die Wirren einer Pubertät in Neapel
Elena Ferrante, die große Anonyme unter den Gegenwartsautorinnen, hat mit ihrer vierbändigen Neapolitanischen Saga, unter anderem dem Band "Meine geniale Freundin", einen Welterfolg gelandet. Im letzten Jahr hat sie einen neuen Roman geschrieben, "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" heißt er und erscheint jetzt auf Deutsch. Und der hat mit der Bestseller-Geschichte um die beiden Freundinnen Elena und Lila wenig zu tun, bis auf: den Schauplatz Neapel.
Es gibt Sätze, die können einem richtig die Kindheit verderben. Wenn etwa der eigene Vater zur Mutter sagt:
"Mit Pubertät hat das nichts zu tun. Sie kommt nun ganz nach Vittoria." So erfuhr ich mit zwölf Jahren aus dem Munde meines Vaters, der sich bemühte, leise zu sprechen, dass ich nun wie seine Schwester wurde, eine Frau, die - das hatte ich von ihm gehört, seit ich denken konnte - die Hässlichkeit und die Boshaftigkeit in Person war. Leseprobe
Giovanna ist am Boden zerstört, denn: Tante Vittoria ist so was wie der Gottseibeiuns der Familie, unsichtbar, unberührbar. Eine schlimme Person, über die und mit der man nicht spricht. Neugierig, wie die junge Giovanna ist, will sie natürlich Vittoria kennenlernen. Und reist dafür aus den luftigen Höhen des wohlhabenden Neapel nach ganz unten, hinein in die Armenviertel.
Die Tür ging auf, eine ganz in Hellblau gekleidete, hochgewachsene Frau erschien, die dichte Mähne pechschwarzer Haare im Nacken zusammengebunden, dünn wie eine gesalzene Sardelle und trotzdem mit breiten Schultern und großem Busen. Sie hielt eine brennende Zigarette zwischen den Fingern, hustete, sagte, zwischen Italienisch und Dialekt schwankend: "Was ist denn, ist dir schlecht, musst du pissen?" Leseprobe
Giovannas Expedition durch die Pubertät
So beginnt die Expedition durch die Pubertät eines jungen Mädchens, hinein in die 90er-Jahre, erzählt aus der Ich-Perspektive Giovannas. Tante Vittoria entpuppt sich, man ahnt es gleich, als energiegeladene, derbe Frau, als launische Sophia Loren der Vorstädte, die der verwöhnten Giovanna erst mal einen Orangensaft presst.
Außerdem ist Vittoria eine Frau, die ohne Scham über Sex spricht. Und Sex, oder besser: die unerfüllte Sehnsucht danach, durchzieht den neuen Roman Ferrantes wie ein roter Faden. Vielmehr: Der ganze Roman gleicht einem roten Fadenknäuel.
Kinder sehen alles
Giovannas Tante und ihr Bruder hassen sich zutiefst, er soll mal ihre große Liebe zerstört haben. Ihr Vater, ein studierter Mann, ein Schnösel und Kontrollfreak, hat es aus der "Zona Industriale" Neapels nach ganz oben geschafft. Verachtung, Klassendünkel, Eifersucht, die 13-jährige Giovanna stößt in ein Wespennest. Und nimmt einen Ratschlag ihrer verführerischen Tante mit: Schau genau hin. Da sieht sie, was sie nie sehen wollte: Die Ehe ihrer Eltern liegt in Trümmern.
Ich lag auf dem Boden, und deutlicher als ihre Gesichter sah ich ihre Beine, ihre Füße. Mariano hatte seine unter dem Tisch lang ausgestreckt, sprach mit meinem Vater und hielt währenddessen einen Fuß meiner Mutter zwischen seinen Füßen. Leseprobe
Ferrante tritt den Beweis an: Kinder sehen alles. In Giovanna erwacht die körperliche Lust. Die chaotische Welt Vittorias ist eine des Kontrollverlustes, der wackligen Autos, des Kippen-Miefs, des derben Dialekts und der tiefen Religiosität. Dem gegenüber: der klinisch saubere Verrat der Upperclass-Eltern.
Wir spürten, dass ein völlig unattraktiver Sex in unsere Leben einbrach, der uns regelrecht abstieß, weil wir dunkel erkannten, dass er nichts mit unseren Körpern zu tun hatte, nichts mit den Körpern unserer Altersgenossen oder mit denen von Schauspielern und Sängern, sondern mit denen unserer Eltern. Leseprobe
Roberto zieht Giovanna in den Bann
Und dann, es ist der große Wendepunkt in dieser Coming-of-Age-Geschichte, erlebt Giovanna in Vittorias Gemeindekirche, wie ein junger Charismatiker einen Vortrag hält. Roberto, der bärtige 25-jährige Intellektuelle mit den hellblauen Augen.
Ich wusste, dass sich nun alles in meinem Leben änderte, dass ich ihn wollte, dass ich ihn unbedingt haben musste, dass ich, obwohl ich nicht an Gott glaubte, jeden Tag und jede Nacht dafür beten würde. Leseprobe
Bei Ferrante ist Drama und Dramolett
Der Roman liest sich wie der Besuch einer randvoll besetzten Trattoria: Da wird geschrien, gelacht, diskutiert, gestikuliert. Überall ist Drama und manchmal: Dramolett. Ganz schön aus der Zeit gefallen sind die Geschlechterrollen des Romans. Immer steht da die Frage der Frauen: Bin ich im Auge des begehrten Mannes schön?
Mit der Zeit wird dieses Dauerrauschen von Selbstzweifeln und Bekenntnissen zur vertrauten, ja schrillen Musik der Jugend. Die Stärke des Romans sind seine kantigen und glaubhaften Figuren. Man wird hineingezogen in eine Zeit, die man überwunden geglaubt hat und erinnert sich wieder: Jugend heißt auch, diese zu überleben.
Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
- Seitenzahl:
- 415 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Suhrkamp
- Bestellnummer:
- 978-3-518-42952-5
- Preis:
- 24 €
