"Camondo": Briefe an den lang verstorbenen Ahnen
Edmund de Waal wollte die biographischen Verwerfungen seiner Ahnen dokumentieren. Entstanden ist ein neues Genre: "Kintsugi-Literatur" - Zerbrochenes mit feinen goldenen Narben.
"Ich schreibe", so Edmund de Waal im Dezember 2020, "aber jetzt denke ich, wenn ich schreibe, an Palimpseste, das Überschreiben eines Textes durch einen anderen. Ich scheine viel Zeit in Archiven zu verbringen."
Die Mühen seiner Recherche in neonfahlem Licht enthält der Text jedoch nicht. "Ich glaube, ich bin ein Mischling", Schreibt Edmund de Waal, "ein nichtpraktizierendes Alles. Aber ich weiß, was Hingabe an eine Idee bedeutet. Ich weiß, dass es Wege gibt, aus dem Verstreuten etwas Außerordentliches zu schaffen." Und dann folgt ein Satz wie Blitz und Donner in diesen kalten Tagen: "Und das die eine Art ist, etwas zu sagen, dem Schweigen der Geringschätzung zu begegnen."
Briefe an den "Lieben Freund"
"Lieber Freund", schreibt er und vielleicht sind damit auch wir gemeint. Er nimmt uns mit - es hat geregnet - den feuchten Kiesweg entlang, hinauf in die Rue Monceau. "Bei der Nummer 63 läute ich und warte auf eine Reaktion", schreibt er, notiert die Textur und das Gewicht und den Geruch der Korrespondenz. Relikte einer großbürgerlichen Vergangenheit, in die er sich begibt.
Der Autor ist auf Spurensuche, die Suche selbst beschreibt er nicht. Die Briefe, alle fangen an mit "Lieber Freund". Sie halten das fest, was er sieht: "Eine Familiengeschichte in Briefen, gediegen mit Familienwappen in blauen Stoff gebunden liegt vor mir. Mir schwant, dass sich in diesem verblichenen Archiv, Dunkles verbirgt."
"Eine Familie, eine Bank, eine Dynastie", schreibt er, und dann: "Ich würde gerne fragen, ob sie jemals etwas weggeworfen haben." Er findet Briefe über Restaurantbesuche mit Feinschmecker-Freunden, Anweisungen an die Gärtner - Wer hat schon einen Gärtner? - für die jährliche Neubepflanzung – Also immer wieder neue Pflanzen? - des Gartenparterres - Wie viele Gärten hatten die? Er findet Instruktionen für ihren Weinhändler, Buchbinder. Die Familie ist schon lange tot.
Edmund de Waal deutet die Grautöne der Familiengeschichte aus

Edmund de Waal weiß, was er tut. "Also, Monsieur", schreibt er im Schlusskapitel, "als das Buch über meine Familie erschien, stellte man mir Fragen zum Glaubensbekenntnis. In Amerika mit einiger Direktheit: „Werden Sie zurückkommen?“ (...) Ich antwortete ausweichend." Und er insistiert auf dem, was er nicht weiß. Er deutet die Grautöne aus.
Mein Vater ist ein zur Hälfte jüdischer anglikanischer Geistlicher. Meine Mutter ist die Tochter eines Landvikars, Historikerin, sie schreibt über Mönchstum. Ich wucht in der Church of England auf, in Kathedralen. Ich habe über die Quäker geschrieben und fühle mich zu ihrem Schweigen hingezogen. Ich lese zen-buddhistische Gedichte. Ich liebe die Psalmen, die alles enthalten, wahre Gedichte des Exils. Ich bin zur Hälfte Engländer, zu einem Viertel Holländer, zu einem Viertel Österreicher und ganz und gar Europäer. Ich weiß nicht genau, wohin ich zurückkommen soll. Leseprobe
Ein leises, zartes, aus der Zeit gefallenes Buch
Wer den Erstling des Professors nicht gelesen hat, wer nicht weiß, dass sein Debütroman "Der Hase mit den Bernsteinaugen" ein Weltbestseller geworden ist, der wundert sich über die gediegene Präzision mit der Edmund Arthur Lowndes de Waal vorgeht, mit der Feder jede Schicht einzeln von der darunter Liegenden löst, sich nicht mit einfachen Erklärungen zufrieden gibt, und jedes Indiz, das er vorfindet – wie in einem dreidimensionalen Sudoku – weiter denkt, dabei die verborgenen Facetten seiner Familie beschreibt, die er uns teelöffelweise enthüllt und gleichzeitig seine persönlichen Gedanken und biographische Hintergründe hinzufügt.
"Camondo" - diese Familiengeschichten in Briefen an den lang verstorben Ahnen, sie leuchten Facetten von Migranten aus, erzählen von den Ephrussis aus dem Schtetl, die nach Odessa kamen und von dort aus in die Wiener Ringstraße übersiedelten und nach Paris kamen, in die Rue de Monceau. Es ist das Paris der Tagebücher von Goncourt, von Proust, Hausmann und von Balzac, hierher verschlägt es auch die jüdische Familie der Camondos aus Konstantinopel. Entstanden ist eine literarische Preziose, ein leises, zartes, ein aus der Zeit gefallenes Buch - mit einem ungeheuren Sog.
Camondo
- Seitenzahl:
- 192 Seiten
- Genre:
- Briefroman
- Verlag:
- Paul Zsolnay
- Bestellnummer:
- 978-3552072572
- Preis:
- 26,00 €
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