Digitaler Buchclub: Wein, gute Bücher und Gesellschaft
Wo Altes nicht mehr funktioniert, entsteht auch Neues. NDR Kultur Reporterin Juliane Bergmann besucht einen digitalen Buchclub, der wegen Corona gegründet wurde.
Donnerstagabend. Heute sind sie zu sechst, die Mitglieder dieses digitalen Buchclubs. Sie schalten sich dazu, zur Konferenz. Der Computerbildschirm wird zum Mosaik aus sechs Videos und sofort beginnt der Austausch - begleitet von gutem Wein und Snacks.
Insgesamt sind beim Buchclub rund ein Dutzend Leute unter anderem aus Hamburg, Bremen oder Köln dabei, im Alter von 30 bis Mitte 40. Zum Teil sind sie befreundet, zum Teil sind sie einander noch nie begegnet. In dieser Woche diskutieren sie über die ersten Kapitel aus dem Roman "Alles zerfällt" des Nigerianers Chinua Achebe. Sie sprechen über das Frauenbild im Buch, über nigerianische Bräuche, über Probleme beim Lesen:
"Was ich faszinierend finde, ist, dass ich dadurch, dass es so eine fremde Welt ist, keine Bilder im Kopf habe."
"Echt?! Ich sehe das alles genau vor mir."
"Aber ist das nicht auch das Tolle beim Lesen - im Gegensatz zum Film, dass man die Bilder selber füllt und dass die deshalb viel näher an einem dran sind?"
Sich über Leseerlebnisse austauschen
Im März - kurz nachdem das soziale Leben in Deutschland Corona-bedingt stark einschränkt wurde, entstand im Freundeskreis die Idee, einen digitalen Buchclub zu gründen. Die Hamburgerin Sarah Kästner, 35, ist von Anfang an mit dabei: "Lesen bedeutet für mich das Eintauchen in eine Welt, die völlig unabhängig von allem Drumherum funktioniert", schwärmt sie: "Das Hineindenken in andere Köpfe, das Hineinfallenlassen in Geschichten, in Umgebungen, in Gesellschaften. Das ist einfach super interessant, sich darüber auszutauschen, wie Menschen Dinge wahrnehmen oder Geschichten auch interpretieren, was sie dabei für Gefühle haben, woran es sie erinnert."
Jede Woche 100 Seiten
Im Buchclub der Freunde kann jede und jeder ein Buch vorschlagen. Dann wird abgestimmt, was sich die Gruppe als nächstes vornimmt. Leif Randts "Allegro Pastell" haben sie beispielsweise schon besprochen, Brit Bennetts "Die Mütter", "Tausend Serpentinen Angst" von Olivia Wenzel. Gelesen werden ungefähr 100 Seiten pro Woche. Die einen lesen es hastig kurz vorm Termin, die anderen nennen das Tempo: entspannt. Vielleser Dieter Niemerszein gehört zur Kategorie zwei.
Seit drei Monaten ist der 46-jährige Einzelhandelskaufmann aus Hamburg dabei. Beim ersten Mal war der Zoom-Neuling etwas aufgeregt - das sei aber schnell verflogen: "Es ist überhaupt nicht so pseudo-intellektuell oder in irgendeiner Weise anstrengend. Es lesen ja immer alle alles anders. Wir machen da aber keine Wissenschaft draus. Es geht darum, sich über tolle Passagen auszutauschen, über das Buch an sich in der Gesamtheit, über die übergeordneten Themen, die das Buch bespricht. Das ist immer sehr bereichernd."
Corona als Zeit des Lesens und der Einkehr
In einer Zeit, in der Einigelung die Devise ist, haben die Buchclub-Mitglieder ihre Treffen lieb gewonnen, erzählt Sarah Kästner. Wenn sich die Corona-Lage wieder entspannt, wollen sie dennoch weitermachen: "Corona war ja vielleicht auch für einige die Zeit des Lesens und der Einkehr. Aber es ist einfach total schön, das gemeinsam zu besprechen. Vor allem weil es Menschen sind, die ich vorher teilweise noch nie gesehen habe, in real, und es so gut funktioniert und wir so einen herzlichen Umgangston miteinander haben und auch alle verlässlich dabei bleiben. Es ist einfach ein total schönes, kleines Ritual geworden in der Zeit jetzt."
