Cees Nooteboom: "Abschied. Gedichte aus der Zeit des Virus"
Eine strenge Form hat Cees Nooteboom für "Abschied" gewählt. Drei Teile insgesamt. Jeder Teil besteht aus 11 Gedichten. Jedes Gedicht besteht aus drei Vierzeilern und einem kurzen, abschließenden Vers.
Erst im Dezember hat Cees Nooteboom ein schönes, kleines, meditatives Buch "Über das japanische Kloster Kozan-ji und die Zeichnungen der Lustigen Tiere" veröffentlicht. Nun gibt es bereits einen neuen Nooteboom.
Melancholische Gedichte in strenger Form
Die Frage, die sich durch das Buch hindurchzieht, findet sich gleich im ersten Gedicht: "Das Ende vom Ende, was könnte das sein?".
Dies fragte sich der Mann im Wintergarten,
das Ende vom Ende, was könnte das sein?
Etwas ganz ohne Kummer, dachte er sich,
er schaute hinaus, sah eine Wolke, die aussah
wie eine Wolke, bleigrau, zu schwer für jede
Waage, den entblätterten Feigenbaum
Gegen die tausendjährigen Steine der Mauer,
die Gänse der Nachbarn, ihre Zensur,
wie die Nacht korrigiert werden sollte,
die Grammatik der Enteignung, niemand
mehr er selbst, keine einzige Erscheinung,
Rückzug nach der Niederlage,
doch keine Bestimmung.
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Die niederländischen Texte ermöglichen einen interessanten Vergleich
Das niederländische Original von Cees Nooteboom und die deutsche Übersetzung von Ard Posthuma stehen nebeneinander, so dass wir beim Lesen einen Vergleich anstellen können bei den Worten, den Reimen und dem Rhythmus.
Das lyrische Ich, das dem des Autors sehr nahe zu stehen scheint, zieht Bilanz eines Lebens, das von Kriegserinnerungen geprägt ist und von ständigen Bemühungen, Erinnerungen und Erfahrungen in Worte zu übersetzen.
Der Krieg, der immer wiederkam,
ein Gast, den jeder kannte, der Kuss eines Mundes
ohne Zähne, die Sprache intimen Verrats, jetzt
wieder vernehmbar, ein sofort erkanntes Früher,
das er mit niemandem teilen konnte. Der Vater
ein Mann im Smoking am Geländer des
Boulevards, die Mutter neben diesem zukünftigen
Toten, schon gehüllt in die Zeit, die kommen sollte,
und er selbst noch verborgen, die Welt eine Wolke
ohne Regeln, und hinter den Eltern das Meer,
die Warnung, die niemand hören wollte, immer
dasselbe, Geräusch wie ein Atem nach innen,
der so viel verschlingt.
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Wie viele Rätsel kannst du ertragen? Auch diese Frage zieht sich durch diese poetischen Landschaften. Aber Nooteboom gehört nicht zu den Dichtern, die es der Leserschaft schwer machen möchte. Seine Bilder sind klar, seine Gedanken zugänglich wie seine Stimmungen, die er mitteilen möchte, ohne sie künstlich zu verrätseln.
Es geht in den Versen um Sorgen und Ängste
Allerdings verzichtet er auf eine direkte Erläuterung seines Untertitels "Gedicht aus der Zeit des Virus". Von Corona ist explizit nicht die Rede, wohl aber von den Sorgen und Ängsten, die den Verfasser in dieser Zeit umtreiben:
Ein Schiff vergeht quer durch den Kopf,
die Fäulnis eines Ursprungs,
Dreimaster quer durch geschlossene Augen, wer
hat sie geschaffen?
Ein verkehrtes Paradies voll
Ungeheuern, die uns gleichen, ein
abgenagtes Gesicht mit einem
Strauch auf dem Rücken. Köpfe
zusammen mit mir im Spiegel
ohne Frage wieso und warum
oder was ich hier soll, Leichen, die sich bewegen
im Takt eines Tanzschritts, Karneval
der Angst.
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Zeichnungen von Max Neumann ergänzen die Gedichte
Diese Angst hat Nooteboom wohl auch in den Zeichnungen von Max Neumann gefunden, die er am Anfang, am Ende und zwischen den einzelnen Gedicht-Einheiten in seinen "Abschied" aufgenommen hat. Sie zeigen sich in sich auflösenden schwarz-weiß gestalteten Gesichtern. Verletzlich wirken sie, orientierungslos, so wie die tastenden Worte in Nootebooms Gedichten.
"Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne" heißt es in Hermann Hesses berühmtem Gedicht "Stufen", nachdem kurz zuvor von Abschied die Rede. Durch Nooteboom werden wir daran erinnert: Auch jedem Abschied wohnt ein Zauber inne.
Abschied. Gedichte aus der Zeit des Virus
- Seitenzahl:
- 100 Seiten
- Genre:
- Lyrik
- Zusatzinfo:
- Zweisprachige Ausgabe, mit Bildern von Max Neumann
- Verlag:
- Suhrkamp
- Bestellnummer:
- 978-3-518-22522-6
- Preis:
- 22,00 €
