Die Autorin Ulrike Edschmid © picture alliance / dpa | Jan-Philipp Strobel Foto: Jan-Philipp Strobel

Ausgezeichnet: Günter-Grass-Preis für Ulrike Edschmid

Stand: 10.06.2022 13:52 Uhr

Die Berliner Schriftstellerin Ulrike Edschmid erhält den Günter-Grass-Preis, der in Lübeck erstmals verliehen wurde.

von Linda Ebener

In Lübeck wurde am Freitag zum ersten Mal der Günter-Grass-Preis verliehen, bei dem künftig alle zwei Jahre eine Autorin oder ein Autor für sein Lebenswerk geehrt wird. 2022 ist es die Berliner Schriftstellerin Ulrike Edschmid. Ihre Bücher seien von einer fesselnden Intensität, die ihre Zeitzeugenschaft durch persönliche Zugänge lebendig werden lässt, heißt es von der Jury.

Ein Leben mit Ausbrüchen

Ulrike Edschmid sitzt zu Hause in Berlin an ihrem Schreibtisch und schaut aus dem Fenster auf eine große Eiche, deren Blätter sich im Wind bewegen. Zum Schreiben ist das ihr Lieblingsplatz, erzählt die 81-Jährige und lächelt. Sie hat schon immer gerne gelesen, aber ans Schreiben hat sie sich lange nicht rangetraut.

"Ich hab mich schon immer für Literatur interessiert, ich habe es auch studiert", erinnert sich Edschmid und ergänzt: "Aber ich bin immer wieder im Leben ausgebrochen und mit 40 kam ich in eine Krise. Ich habe Deutschland für eine Weile verlassen und bin in die Vereinigten Staaten gegangen. Meine Mutter war sehr krank und ich hatte auf einmal das Gefühl, bevor ich in die Staaten ging, muss ich ihr Leben aufzeichnen."

"Die Liebhaber meiner Mutter" als spätes Debüt

Mit Tonbändern im Gepäck ist sie in die USA gefahren und hat das Gesprochene ihrer Mutter verschriftlicht und so ging es für Edschmid mit dem Schreiben los, es entstand das Buch "Die Liebhaber meiner Mutter".

"Das Schreiben ist mein Fokus, also zuallererst bedeutet es mal die Struktur eines Tages, den Sinn eines Tages und sich auf etwas zu konzentrieren", sagt Edschmid und fügt hinzu: "Das ist eine wunderbare Sache, weil man so auch die Außenwelt ein bisschen außen vorlassen kann."

"Bezug zur Realität ist wichtig"

Sie schreibt über Menschen, denen sie selbst begegnet ist oder mit denen sie zusammengelebt hat. Sie nennt sich selbst eine Geschichten-Finderin: "Mir ist wichtig, dabei authentisch zu bleiben und insofern bin ich da auch immer hinterher, dass es stets einen Bezug zur Realität hat. Aber die Realität wird umgeformt, sie wird im besten Fall zu Literatur. Das ist für mich das Korrektiv, was ich auch brauche, also dieses Finden und nicht Erfinden."

Diese Geschichten fasziniert auch die Jury des Günter-Grass-Preises in Lübeck. Sie besteht größtenteils aus Autorinnen und Autoren des Lübecker Literaturtreffens, darunter Feridun Zaimoglu.

"Man wird die Geschichten nicht mehr los!"

"Sie schreibt Bücher, die man nicht so schnell vergisst", meint Zaimoglu und sagt weiter: "Es sind wirklich ganz besondere Geschichten von Frauen und Männern, die nach heutigen Kriterien gescheitert, die ausgebrochen sind, die sich nicht gefügt haben und sie schreibt das so eindringlich und so klar in Bildern, dass diese Worte nachklingen und dass diese Bilder auch nachbrennen, man wird diese Geschichte nicht mehr los."

Neuer Stoff feiert Premiere am Abend

In ihrem letzten Buch "Levys Testament" hat Edschmid über ihren damaligen Liebhaber und heutigen Freund Levy geschrieben. "Als er 60 Jahre alt ist, bekommt er einen Anruf und erfährt auf einmal, dass er zu einer riesigen Familie gehört, also von seinem Vater her aus Polen stammend, die sehr reiche Leute sind", erzählt Edschmid: "Und dann beginnt er dem nachzuforschen und entdeckt eine Familiengeschichte, die einen sehr kriminellen Ursprung hat."

Und auch die nächste Geschichte für ein neues Buch ist schon in Arbeit, daraus wollte sie am Abend ein paar Zeilen vorlesen: "Ich bin wirklich ganz am Anfang und möchte darüber gar nicht viel sagen. Es ist wieder ein Mensch, der mir sehr nahestand und der in etwas verwickelt war, was mich fasziniert."

"Sie schreibt auf, was in Vergessenheit gerät."

Ulrike Edschmid hat in ihrem Leben viel erlebt. Ihre Beobachtungsgabe ermöglicht es ihr, aus allen Erlebnissen und Erzählungen ihres Umfelds Bücher zu schreiben, ohne sich etwas ausdenken zu müssen. Für die Jury des Günter-Grass-Preises ist das die Auszeichnung wert. "Ich kann, glaube ich, auch für meine Kolleginnen und Kollegen sprechen, dass sie ausgezeichnet wird, weil sie eine großartige Schriftstellerin ist, die ungewöhnliche Biografien aufschreibt, die dann vielleicht in unserer heutigen Zeit ein bisschen in Vergessenheit geraten", sagt Zaimoglu.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch in den Tag | 10.06.2022 | 06:40 Uhr

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