Marie-Luisa Frick © picture alliance/dpa Foto: Horst Galuschka
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AUDIO: Auf eine hellere Zukunft - Das Denken der Aufklärung als Inspiration und Auftrag (10 Min)

Das Denken der Aufklärung als Inspiration und Auftrag

Stand: 24.06.2023 06:00 Uhr

Hat Aufklärung eine Zukunft? Die Philosophin Marie-Luisa Frick meint entschieden: ja - allerdings nur, wenn wir die vielstimmige Philosophie der Aufklärung als Inspiration nutzen, Aufklärung immer weiterzudenken.

von Marie-Luisa Frick

Das Denken der Aufklärung hat mächtig Spuren hinterlassen; es hat unsere moderne Welt in vielerlei Hinsicht geformt. Das reicht von den Verfassungen der liberalen Demokratien über die Menschenrechte bis hin zur Rationalität der Wissenschaften und der modernen Technik. Zugleich wird in den letzten Jahren immer häufiger darüber geklagt, dass es aufklärerisches Denken neuerdings ganz schön schwer hat. Es gibt regelrechte antiaufklärerische Bewegungen, die an den Fundamenten unserer Gegenwart zu rütteln versuchen.

Leben wir in einem aufgeklärten Zeitalter?

Von Immanuel Kant stammt nicht nur der bekannte Wahlspruch der Aufklärung: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!". Auf ihn geht auch eine Unterscheidung zurück, die heute noch dazu einlädt, sich Gedanken zur Zeit zu machen. Dass er, Kant, in einem aufgeklärten Zeitalter lebt, verneinte er. Aber: Er und seine Zeitgenossen befänden sich in einem Zeitalter der Aufklärung. Immerhin. Aufklärung wird somit als Prozess verstanden, dessen Vollendung im ausgehenden 18. Jahrhundert noch der Erreichung harrt. Und dabei war dieser geistes- und kulturgeschichtliche Transformationsprozess von globalgeschichtlicher Bedeutung, den wir "Aufklärung" nennen, zu Kants Lebzeiten schon rund 150 Jahre im Gang.

Und heute, wo stehen wir eigentlich? Leben wir in einem aufgeklärten Zeitalter? Woran würden wir das festmachen? Oder befinden wir uns, nach Rückschlägen durch horrende Zivilisationsbrüche, noch immer oder wieder in einem Zeitalter der Aufklärung? In welchem Stadium dieses Prozesses sind wir? Oder haben wir, wie nicht wenige Zeitgenossen in kulturpessimistischer Gestimmtheit klagen, die Türen zu einem Zeitalter der Gegen-Aufklärung längst aufgestoßen?

Die Vision einer helleren Zukunft

So wenig geschichtsphilosophische Diagnosen, die mit dem Schlagwort "Aufklärung" operieren, taugen, eine komplexe, unübersichtliche Welt zu erfassen, in der über acht Milliarden Menschen leben, so fruchtbar sind sie als Medium der Kritik und der Hoffnung. Wer sich auf Aufklärung bezieht, meint immer schon ihr Anderes, das Nicht- oder Unaufgeklärte, mit. Wer im Dunkel der Menschheitsgeschichte einen Lichtschein erblickt, dem man folgen solle, hat eine Idee des Fortschritts, die Vision einer helleren Zukunft.

In Zeiten dichter Krisenverschränkungen haben Gesamtbetrachtungen der conditio humana und sie begleitende Gesellschaftskritik und Zukunftsprogramme Konjunktur. Rivalisierende politische Bewegungen und verschiedene Weltanschauungen bieten ganz unterschiedliche Modelle der "Aufklärung" an, sehen sich und ihre Anhängerschaft als mit Durchblick ausgestattet, ihre Gegner hingegen als mit Blindheit geschlagen. Sie sind aufgewacht, während die anderen schlafen. Sie haben die Lösung, die anderen sind das Problem.

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Aufklärung als eine Quelle der Inspiration

Über Aufklärung darf, ja muss man streiten. Ist es eine Fortführung des aufklärerischen Humanismus, für eine universelle Achtungspflicht für jede Person, ihren Lebensentwurf und identitäre Selbstverortung einzutreten - oder verengen daraus abgeleitete Diskursnormen den freien, öffentlichen Vernunftgebrauch und damit die Möglichkeiten zur Aufklärung als solche? Ist Gleichheit der zentrale Wert der Aufklärung - oder aber Freiheit? Entspricht es einer aufgeklärten Haltung, der Obrigkeit zu misstrauen und sich nur auf sich selbst zu verlassen? Kann es auch ein Zuviel des kritischen Denkens geben? Ist es aufgeklärte Vorsicht, den Menschen nicht zu viel zuzutrauen und sie mit Verfahren demokratischer Repräsentation zu zügeln, oder würde eine aufgeklärte Demokratie mehr unmittelbare Beteiligung der Bürgerschaft beinhalten? Setzt ein aufgeklärtes Wirtschaftssystem eher auf nationale Autarkie oder globalen Handel? Ist es Ausdruck einer aufgeklärten Friedensorientierung, für weltweite Abrüstung einzutreten, oder sind umgekehrt aufgeklärte Gesellschaften besser beraten, sich gegen ihre Widersacher militärisch in Stellung zu bringen oder gar die "Werte der Aufklärung" mit Waffengewalt zu schützen?

Viele dieser Fragen und die Konflikte, die sie transportieren, beschäftigten bereits die Philosophie der Aufklärung. Dass die Aufklärung kein homogenes Projekt war und ihre Verfechter keine uniforme Kampfgemeinschaft darstellten, zeigt die Ideengeschichte deutlich. Die Philosophie der Aufklärung ist eine Quelle der Inspiration, die Fragen, was Aufklärung eigentlich bedeutet oder was gerade nicht als aufgeklärt gelten kann, immer wieder neu zu stellen.

Von der geistigen Faulheit und der diskursiven Feigheit

Das muss bereits bei Kants Aufforderung zum Selbstdenken beginnen. Sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen, ist kein Ideal, das man unkritisch verfolgen kann, das heißt ohne Unterscheidung zwischen dem, was man selbst verstehen kann einerseits und dem, was man ohne die Expertise anderer nicht einordnen kann andererseits. Ohne eine solche Reflexivität droht Selbstdenken zu einer selbstgefälligen Attitüde zu werden, im schlimmsten Fall zur Revolte des Ungeistes, zum Ressentiment gegen jegliche epistemische Autorität jenseits des Selbst. Hat Kant zu Recht von Faulheit und Feigheit gesprochen, die Menschen vom Selbstdenken abhalten und in Fremdbestimmung gefangenhalten, so ist heute auch von einer anderen selbstverschuldeten Unmündigkeit zu sprechen: von der geistigen Faulheit, sich möglichst umfassend darüber kundig zu machen, was Fachleute mühsam an vorläufigem Wissen erarbeiten. Und von der diskursiven Feigheit, sich mit anderen Meinungen ernsthaft auseinanderzusetzen, anstatt sie in politischen Debatten lediglich zu karikieren oder zu skandalisieren.

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Die Frage, was man selbst wissen und beurteilen kann und wo man auf andere angewiesen ist und daher Vertrauen leihen muss, ist heute komplizierter. Noch nie waren die Möglichkeiten größer, sein Weltbild zu formen und epistemische Autoritäten zu wählen - dank globaler Kommunikation und der theoretischen Verfügbarkeit von Welt-Wissen, dessen Umfang die Aufklärer in Schock-Staunen versetzt hätte. Den Segnungen der fortgeschrittenen, digital-technologischen Moderne stehen Schatten gegenüber, die nicht in der Technik selbst angelegt sind, sondern in der menschlichen Natur. Dazu zählt die Tendenz, Informationen mittels des sogenannten Bestätigungsvorurteils zu verarbeiten: Was zu bisher für wahr Gehaltenem passt, wird rascher und unkritischer ins eigene Weltbild integriert als Informationen, die bisherigen Annahmen widersprechen. Solche Widersprüche zu klären oder gar aufzuarbeiten, wäre harte Arbeit. Wie viel davon ist uns ein aufgeklärtes Weltbild wert? Wie viel Zeit dazu lässt uns ein zu kleinen und großen Sorgen verdichteter Alltag überhaupt?

Spannungen der Demokratie

Besonders problematisch wird es, wenn sich die Neigung hin zu einem kohärenten Weltbild - zulasten eines der komplexen Wirklichkeit entsprechenden Weltbilds - mit Gruppendenken verbindet. Solche Stammesgemeinschaften in ihren digital-medialen Parallelwelten werfen die Frage auf, welche demokratische Öffentlichkeit uns eigentlich noch verbindet. Unter Krisenbedingungen und der unter unterschiedlichen Vorzeichen gefühlten existenziellen Bedrohung durch die anderen, ihren Lebensstil, ihr Streben, werden politische Konflikte radikal. Und zwar im Wortsinn: Sie scheinen bis zur Wurzel hinabzureichen und zwischen unvereinbaren Identitäten zu walten.

Wie sollte eine aufgeklärte Demokratie mit solchen Konflikten umgehen? Was ist überhaupt eine aufgeklärte Demokratie? Eine solche müsste sich zuerst über ihre unvermeidlichen Spannungen aufklären sowie über die Gefahren, die mit Versuchen verbunden sind, diese Spannungen zu beseitigen. Eine Ur-Spannung ist jene zwischen dem postulierten Willen eines politischen Volkes und den Verfahren, diesen Willen auszudeuten und in Geltung zu setzen. Den Volkswillen unmittelbar regieren zu lassen, wäre nur möglich unter der falschen Annahme seiner Einförmigkeit. Umgekehrt produzieren Verfahren der Repräsentation, ohne Korrekturen durch direkte Mitbestimmung, Entfremdung zwischen Bürgerschaft und politischer Klasse. Anfälligkeit für populistische Agitation, die zwischen dem angeblich "wahren" Volk und dessen angeblichen "Verrätern" trennt, ist ein Symptom für eine gefährliche Dysbalance der Demokratie.

Mehr Demokratie mit der Begründung abzulehnen, die Menschen seien dazu noch nicht bereit oder fähig, verweist auf eine weitere der Demokratie immanente Spannung, die es letztlich auszuhalten gilt: die Spannung zwischen dem Freiheitsversprechen der Demokratie und ihrem Erfolgsversprechen. Wer mit Blick auf Krisenherausforderungen und die beschränkte Urteilskraft der meisten Menschen mit einer Herrschaft der Klügsten sympathisiert, verkennt, dass Demokratie nicht deshalb beansprucht, ihren Alternativen überlegen zu sein, weil sie immer zu besten Ergebnissen führen müsste - sondern weil sie der Berufung des Menschen zur Freiheit entspricht. Umgekehrt kann dieses Freiheitsversprechen der Demokratie nur dann attraktiv sein, wenn die Menschen, die in ihr leben, von ihrer Freiheit Gebrauch machen, der das erfolgreiche Lösen gemeinsamer Probleme erlaubt.

Aufklärung ist kein abgeschlossenes Projekt

Das Denken der Aufklärung ist eine Absage an Fatalismus. Es ermutigt, auf eine hellere Zukunft hinzuarbeiten, statt darauf nur zu warten. Eine aufgeklärte Haltung aber weiß auch um die Grenzen menschlicher Handlungsmacht und verlangt nicht nach perfekten Lösungen. Sie kennt die Abgründe menschlicher Unvernunft ebenso wie jene menschlicher Vernunft. Sie betrachtet Aufklärung nicht als abgeschlossenes Projekt, sondern als Auftrag, sie weiterzudenken und mitzugestalten.

(Wiederholung der Sendung vom 13.08.2022)

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 24.06.2023 | 13:05 Uhr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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