Eine als "Judensau" bezeichnete mittelalterliche Schmähskulptur ist an der Außenmauer der Stadtkirche Sankt Marien in Wittenberg zu sehen. © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild Foto: Hendrik Schmidt

Wittenberger Schweinerelief: "Kein antisemitischer Hintergrund"

Stand: 14.06.2022 16:46 Uhr

In Wittenberg fühlte sich ein Bürger von einem Schweinerelief, das an der Stadtkirche angebracht ist, beleidigt. Der Bundesgerichtshof hat nun entschieden, dass diese "Judensau"-Plastik bleiben darf.

An der Wittenberger Stadtkirche gibt es ein Relief aus dem Mittelalter, das in vier Metern Höhe eine Sau zeigt, an deren Zitzen zwei Menschen trinken, die Juden darstellen sollen. Ein Rabbiner blickt dem Tier unter den Schwanz und in den After. Das Schwein gilt im Judentum als unrein. Ein 79 Jahre alter jüdischer Bürger brachte den Fall vor den Bundesgerichtshof, die Wittenberger "Judensau" sei beleidigend und solle entfernt werden. Nun hat der Bundesgerichtshof diese Klage abgewiesen. Ein Gespräch mit der in Wittenberg ansässigen Kunsthistorikerin Insa-Christiane Hennen.

Frau Hennen, wie stehen Sie zu dem Urteil? Ist das eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs, die Sie nachvollziehen können?

Insa-Christiane Hennen: Die Entscheidung kann ich sehr gut nachvollziehen. Ich bin auch ein wenig erleichtert, dass sie so gefällt wurde, weil ich mir nicht ausmalen möchte, was passiert wäre, wenn man entschieden hätte, das Objekt abzunehmen, ins Museum zu stellen und der Öffentlichkeit zu entziehen.

Warum wäre das so schlimm gewesen? Museen sind ja öffentlich.

Hennen: Das ist richtig. Es ist aber ein großer Unterschied, ob ich mich entscheide, in ein Museum zu gehen, um etwas anzusehen, oder ob ich im öffentlichen Raum mit Dingen konfrontiert bin, die sich dort über Jahrhunderte befunden haben und auch über Jahrhunderte umgedeutet wurden. Wenn ich so ein Objekt aus solch einem Zusammenhang herauslöse, dann zerstöre ich diesen Zusammenhang und werte das Objekt schon wieder um. In diesem Fall würde das dazu führen, dass man diese Mahnung, die ich - und wenn ich es richtig verstanden habe, auch der Bundesgerichtshof - in diesem mittelalterlichen, um 1290 entstandenen Kunstwerk erblicke, in ihrer Aussage schmälern würde.

In der Begründung des Bundesgerichtshofs heißt es, die Beklagte, also die Wittenberger Stadtkirche, habe den ursprünglich rechtsverletzenden Zustand dadurch beseitigt, dass eine Bodenplatte und ein Aufsteller angebracht seien. Auf dieser Bodenplatte, die noch zu DDR-Zeiten angebracht wurde, steht: "Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem Hamphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in 6 Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen". Das ist von der Aussage her eindeutig, aber umständlich formuliert. Genügt das Ihrer Ansicht nach?

Hennen: Die Frage kann man sich natürlich stellen. Es genügt nicht. Insofern wurde auch schon darauf reagiert, weil es noch eine zweite Tafel gibt. Aber die Aussage in diesem Text von 1988 bezieht sich ja darauf, dass die Shoah in einem anderen Kreuzeszeichen, nämlich nicht im christlichen Kreuzeszeichen, sondern im Zeichen des Hakenkreuzes stattgefunden hat, also mindestens sechs Millionen Juden umgebracht wurden. Die Gemeinde hat mit diesem Mahnmal, das 1988 angebracht wurde, versucht, die Gesamtproblematik auf künstlerischem Weg anzufassen und damit auch versucht, angemessen und nicht zu alltäglich zu reagieren. Es war schon der Anspruch, dass das nicht in einer vermeintlich banalen Weise behandelt werden sollte. Damit ist es vielleicht zu kompliziert für den einen oder anderen. Aber es ist erst mal ein Versuch, hinter dem auch ein sehr intensives und zähes Ringen stand. Über Jahre wurde das diskutiert und dann wurde 1988 dieser Weg mit zwei Künstlern gemeinsam entwickelt.

Inzwischen gibt es eine zweite Tafel, in der unter anderem auch erklärt wird, das diese Skulptur, die von etwa 1290 stammt, ursprünglich zu einem Gesamtskulpturenprogramm im Äußeren des Kirchenbaus gehörte, dass sie 1569/70 an den jetzigen Platz versetzt wurde und durch eine Inschrift, die über ihr angebracht wurde, in einen neuen Kontext gestellt wurde. Dieser neue Kontext ist eigentlich erst der Moment, wo das sehr offensichtlich gegen Juden formuliert wird. Vorher war die Aussage eine andere: Es ging darum, die christliche Gemeinde davor zu warnen, sich fremden Bräuchen zuzuwenden. Das ist eine ganz andere Aussage als die judenfeindliche, im Kern aber antijudaistische Aussage, die mit diesem Zitat einer Lutherschrift von 1543 einhergeht.

Sie sind Gemeindemitglied in der Stadtkirche, haben also diese Diskussion auch mitbekommen. Und Sie sind auch Mitverfasserin eines Heftes, richtig?

Hennen: Ja, ich bin Gemeindemitglied. Ich war auch zeitweilig im Gemeindekirchenrat und damit auch einmal im Monat mit den ganzen Reaktionen, die auch im Zusammenhang mit dem Reformationsjubiläum 2017 stark zugenommen hatten, konfrontiert. Weil der jetzige Kläger und auch einige andere Personen durch Online-Petitionen und dergleichen einen hohen Druck ausgeübt haben, haben wir uns damals entschieden, eine Vortragsreihe zu organisieren. Das hat eine Stiftung, die in Wittenberg ansässig ist und die Universitätstradition pflegt, in die Hand genommen und hat das gemeinsam mit dem Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie und der Stadtkirchengemeinde umgesetzt. Daraus hervorgegangen ist die Dokumentation "Die Wittenberger Sau". Darin haben wir uns bemüht, aus verschiedenen Blickwinkeln und sehr gründlich der Geschichte dieses Objekts und dieser Umdeutungen nachzugehen.

Verstehen Sie denn, dass sich Menschen dadurch beleidigt fühlen, auch wenn es diese Erklärtafel gibt? Dass das noch im öffentlichen Raum sichtbar ist?

Hennen: Ja, dass sich jemand durch ein Objekt, dass andere Menschen aus welchen Gründen auch immer angebracht haben, beleidigt fühlen kann, das kann man verstehen, natürlich. Ob das in diesem Fall sinnvoll ist, würde ich trotzdem sehr in Frage stellen. Das Objekt ist von 1290, die die ganze Sache verschärfende Inschrift ist von 1570, und beides hat keinen antisemitischen Hintergrund. Denn diesen Rassenbegriff der Nazis gab es weder im 13. noch im 16. Jahrhundert, sondern das ist eine Rückprojektion aus unserem Erfahrungshorizont. Wenn ich immer meinen Erfahrungshorizont anlegen würde, dann müsste ich sehr viele andere Kunstobjekte auch als beleidigend empfinden.

Aber es war schon als Spottbild gemeint, oder?

Hennen: Nein, eigentlich nicht. Ganz am Anfang, 1290, war es als ein Appell gemeint, sich von fremden Bräuchen fernzuhalten, also bitte nicht zum Judentum überzutreten. Aber es war ein Appell an die christliche Gemeinde. Es war wahrscheinlich auf der Nordseite der Stadtkirche angebracht, und dieser Raum war von den Wittenberger Juden eigentlich nicht zu betreten. Das heißt, die direkte Konfrontation eines jüdischen Einwohners Wittenbergs mit dieser Darstellung war eigentlich gar nicht gegeben und auch nicht vorgesehen. Ich vermeide deswegen auch selbst diesen Begriff "Schmähplastik", weil es das ursprünglich nicht war.

Das Interview führte Eva Schramm.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 14.06.2022 | 16:30 Uhr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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