Weihnachtliche Versuchungen: Last-Minute-Gedanken zum Fest
Kinderglaube und Kitsch, Boykott und Verzicht, Konsumrausch und Kritik - die weihnachtlichen Versuchungen sind viele. Schriftstellerin Regula Venske beschwört die Verlockungen. Ein Auszug aus der Sendung Glaubenssachen bei NDR Kultur.
Weihnachten kommt immer schneller als man denkt, so lautet ein viel zitierter Stoßseufzer. In diesem Jahr aber hält der Kalender ein wundersames Angebot der Entschleunigung für uns bereit: Dadurch dass der Heilige Abend auf den 4. Advent fällt, entfällt jede Menge Stress, den dieser Tag sonst gelegentlich mit sich bringt.
Ein Segen: 4. Advent und Heiligabend fallen zusammen
Wenn noch Last-Minute-Geschenke gekauft werden müssen, man beim Kochen plötzlich feststellt, dass sich wider Erwarten keine Orangenmarmelade mehr in der Speisekammer befindet. Da werden in aller Eile Ehemänner losgeschickt oder die Kinder - die eh den lieben langen Tag über beschäftigt sein wollen - oder man hastet noch selbst in den Supermarkt und bemüht sich wenigstens an der Kasse um ein kleines Innehalten, ein winziges Atemschöpfen inmitten des allseitigen Trubels. "Bitte ein Storno an Kasse 5", "Last Christmas, I gave you my heart …" und was der Zumutungen allüberall auf den Tannenspitzen noch mehr sind in diesem Jahr aber, nichts dergleichen! In aller Herrgottsruhe können wir diesen Morgen genießen wie sonst erst den Ersten Weihnachtstag.
Perfektionismus - die große weihnachtliche Versuchung
Darf ich Sie in meine Küche einladen, mögen Sie mit mir bei einem Becher Kaffee oder Tee unseren Last-Minute-Gedanken zum Fest nachhängen? Lassen Sie uns heute Morgen allem Weihnachtsstress abschwören! Verdankt er sich nicht völlig überflüssigen Regungen?
Wie zum Beispiel dem innerfamiliären oder auch nachbarschaftlichen Ehrgeiz im Streben nach Anerkennung: Wer hat die originelleren Geschenke gebastelt, die komplizierteren Kekse gebacken, den edleren Weihnachtsschmuck an die Wohnungstür gehängt? Gewiss hat kein Weihnachtsengel je Perfektionismus verkündet, handelt die Weihnachtsgeschichte doch im Gegenteil gerade davon, wie wenig perfekt das Leben sich gestalten kann und wie es Menschen zum Improvisieren zwingt. Perfektionismus, das ist vielleicht eine der größten weihnachtlichen Versuchungen für den modernen Zeitgenossen, Katastrophen und Kollateralschäden sind da vorprogrammiert. Etliche Anthologien mit "schrecklich wahren Weihnachtsgeschichten", auch die so beliebten Weihnachtskrimis, die sich - "Alle Morde wieder" - in dieser Jahreszeit in den Buchhandlungen stapeln, wissen davon zu berichten. Von Familienzerwürfnissen, abgefackelten Adventskränzen und umgekippten Weihnachtsbäumen ist da zu lesen, von misslungenen Raubüberfällen und erschlagenen Weihnachtsmännern.
Eingespielte Familienrituale
Der ganz normale Weihnachtswahnsinn oder "Holy Horror Christmas" - so lautete der Titel eines solchen Sammelbandes vor Jahren. Hatte ich nicht sogar selbst einen Beitrag dafür verfasst? Eigentlich habe ich, bekennender Weihnachtsfan, der ich bin, in solch einem Buch nicht das Geringste zu suchen. Alljährlich hingen damals pünktlich zum 1. Dezember zweimal 24 bunte Socken bei mir im Flur, eigenhändig befüllt mit kleinen Geschenken und an ihren goldenen Bändseln recht hübsch anzusehen: der Adventskalender für meine Söhne.
Mehrmals im Advent wurden Haferflocken-Leckerli nach dem bewährten Rezept meiner Mutter gerollt, und gelegentlich schaffte ich auf den letzten Drücker auch noch zwei, drei Bleche Snicker-Doodles, kichernde Dummköpfe, für den Mann. Allein schon dieser Geruch nach reichlich Rosinen in Whisky. Wenn sich dann Mann und Schwiegervater beim Aufstellen des Weihnachtsbaumes an den Rand des Nervenzusammenbruchs echauffierten und den Baum immer unvorteilhafter zurechtstutzten, bot das gelegentliche Nippen am süßen Rest des Whiskys, in dem die Rosinen gezogen hatten, "Soul food"-artiger Trost.
Die alkoholischen Versuchungen
Unverständlich ist nur, wie ich ein solcher Weihnachtsfan werden konnte; es wurde mir nicht in die Wiege gelegt. Ist vielmehr ein Weihnachtswunder. Im Oktober, als meine Mutter gerade erfuhr, dass sie schwanger war, starb ihr Vater an Herzversagen. Während der gesamten Zeit der Schwangerschaft kämpfte sie gegen die Trauer, um kein depressives Baby zu kriegen; dass ich erst im Juni geboren werden sollte, machte die Sache nicht leichter. Am Heiligen Abend kam ihre Mutter aus Hannover angereist, eine traurige, trauernde Witwe. Von wegen "O du Fröhliche Weihnachtszeit"! Ab und an stahl sich mein großer Bruder aus dem Weihnachtszimmer davon, um kurz darauf etwas heiterer wiederzukehren. Nach einer Weile folgte ihm unser Vater, um zu sehen, was sein Ältester trieb. Der bald Sechzehnjährige hatte in seinem Kleiderschrank eine Flasche Schnaps deponiert, vor der sich Senior und Junior alsbald wiederfanden, während meine Schwester, so stelle ich mir vor, lieb auf der Blockflöte spielte. Auf dem Umweg über meine Mutter, die an ihre Haferflocken-Leckerli gern einen Schuss Rumverschnitt gab, wurde ich gestärkt fürs Leben, oder früh in Versuchung geführt, je nachdem, wie man es sieht.
Dry-January Bewegung ist neu
Es sind dies wohl die banaleren, wiewohl nicht ungefährlichen Versuchungen, auch schon im Advent. Dass die Adventszeit einstmals eine Fastenzeit war, ist aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden, dafür haben gesundheitsbewusste Organisationen vor einigen Jahren die Dry-January-Bewegung ins Leben gerufen und den Januar zum trockenen, das heißt, alkoholfreien, Monat erklärt. Das ist wohl auch dringend nötig nach all den Bechern voll Glühwein, Grog und Eierpunsch, die im Dezember landauf, landab an Weihnachtsmarktständen geleert werden. Selbst noch in harmlos anmutendem Marzipan kann sich Alkohol befinden, nicht immer deklariert: ein Problem für Kinder und abstinente Alkoholiker, bei denen Geruch und Geschmack das Verlangen nach mehr wecken.
Die kulinarischen Versuchungen
Darf ich Ihnen einen Zimtstern anbieten, wegen Haselnussallergie mit Mandeln gebacken? Meine Lieblingskekse, die guten alten Spekulatius, sind leider schon wieder alle und waren auch im Laden vergriffen. Daran trage ich Mitschuld, da ich bereits seit Ende Oktober intensiver Spekulatius-Nascherei gefrönt habe, allen Warnungen vor krebserregendem Acrylamid zum Trotz.
Ach, die leiblichen Versuchungen! Es mag ebenso herrlich sein, ihnen zu wider-stehen wie ihnen zu erliegen. Gleich werde ich den Weihnachtsbraten, nach einem Rezept meiner Mutter, mit 30 Nelken spicken, vertagen wir daher das Thema: welches Fleisch und wieviel und ob überhaupt, aufs neue Jahr. Für die guten Vorsätze, auf dies und jenes zu verzichten, ist schließlich der Neujahrstag da. Noch einen Mandelstern?
Ich gehe meinen Weg
Als ich elf Jahre alt war, leuchtete eines Morgens der Weihnachtsstern extra für mich. Ich war in der fünften Klasse, Sexta, so hieß es damals, und ging den neuen Schulweg mit all dem Mut und der Unerschrockenheit eines Mädchens, das von den Sorgen der Mutter nichts weiß. Am Ende der Finkenstraße musste ich in einen schmalen Fußweg einbiegen. Dunkel erstreckte sich der Weg vor mir - er war vielleicht hundert oder zweihundert Schritte lang und auf beiden Seiten von hohen Hecken gesäumt. Am Ende mündete er in die Promenade, den grünen Ring, der auf den Überresten der alten Befestigungswälle die Münstersche Altstadt umgibt. Wer weiß, wer sich in der Parkanlage herumtrieb, um einem Schulkind im Dunkel eines Dezembermorgens hinter einem Busch aufzulauern?
Das mögen die Ängste meiner Mutter gewesen sein, meine waren es nicht. Wenn ich am Ende der Finkenstraße angelangt war und in diesen Fußweg einbog, dachte ich jeden Morgen denselben Gedanken: "Ich gehe meinen geraden Weg." Das war das Mantra jener Jahre, das Mantra eines erwachenden Selbst-Bewusstseins. Und obwohl ich inzwischen weiß, wie viele Umwege man im Leben oft gehen muss - ja, dass die Umwege mitunter das eigentliche Leben ausmachen! -, so denke ich doch immer noch gern an das frohgemute Mädchen, das diesen Satz vor sich hinsprach, zurück.
Ein Stern am Himmel
Und dann, eines Morgens Anfang Dezember: der Weihnachtsstern! Hell stand er am dunklen Dezemberhimmel. Ich freute mich, staunte, fühlte mich wunderbar im Leben zu Haus. Ging geradewegs auf den Stern zu, kam flugs in der Schule an und hätte am liebsten aller Welt davon erzählt. Doch aus irgendeinem Grund behielt ich mein Geheimnis für mich. Am nächsten Morgen war er wieder da, und auch am übernächsten. Es hat ein paar Tage gedauert, bis die Ent-Täuschung folgte. Von wegen, Weihnachtsstern: Es war das Licht eines Krans! Hell und nüchtern spendete es den Arbeitern einer Baustelle Licht, warnte Flugzeuge und Weihnachtsengel vor Kollisionen.
Und dennoch: Die stille Freude, das Staunen blieben. Mit 17 besuchte ich ein privates Mädcheninternat in den USA. Mit meinem Liebsten in Deutschland hatte ich mir einen Stern ausgeguckt: "Wenn wir diesen Stern sehen, denken wir aneinander!" Es gab noch kein Internet, kein Facebook oder Skype, und telefonieren war undenkbar teuer. "Es stand ein Sternlein am Himmel, ein Sternlein guter Art", heißt es im Gedicht von Matthias Claudius. Und wie im Gedicht trat ich abends vor die Schwelle und suchte, bis ich's fand. Dieses Sternlein war mein Korrektiv in einer absurd reichen Umgebung, die so stark von Geld und Status geprägt war, dass es laut Schulordnung verboten war, während der Unterrichtszeit Pelze und Diamanten zu tragen. Es stand für die Jugendliebe, symbolisierte aber auch etwas, das über das Individuelle hinausging: dass Liebe das wichtigste ist.
Offen sein für Wunder
Habe ich den Stern pflücken wollen? Nein. Ich mochte zwar als "arme Stipendiatin" gelten, war aber kein armes Sterntalerkind, das sein Hemdchen aufspannte in der Hoffnung, etwas abzubekommen vom großen Diamantengefunkel. Mir reichte die Sternenschau. Warum sollte ich Sterne pflücken, wenn der Weihnachtsstern für mich leuchtet? Da brauche ich ja gar nichts zu tun. Ich muss mich weder recken noch die Hand danach ausstrecken. Ich muss nichts festhalten wollen. Nur einen Moment offen sein für das Wunder, das sich ereignet.
Ich frage mich aber, ob nicht all diese Gegensätze zusammengehören und gleichermaßen Versuchungen darstellen: der Weihnachtskitsch, die kindlich-naive Ergriffenheit bis hin zur Selbsttäuschung ebenso wie die Ernüchterung, die oft mit Abwehrreflexen und Entwertung einhergeht. Konsumrausch und Verschwendung versus Verzicht, ja Boykott; Perfektionismus versus Wurschtigkeit und Laissez-faire; gute, mitunter geschönte Erinnerungen versus Katastrophen- und Horrorgeschichten, die gleichermaßen übertrieben sein mögen - es kann alles stimmig sein oder falsch, und die Versuchung mag wohl darin bestehen, jeweils nur die eine Seite zu sehen, gefangen zu sein im Tunnelblick - sei es der erbaulich-schönen Besinnung um den Preis der Verdrängung, sei es der vernichtenden Kritik, die alle Hoffnungen und Erwartungen schon vorbeugend preisgibt.
Wahrheit, Schönheit, Freiheit, Güte und Frieden
Bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Oktober dieses Jahres spann Salman Rushdie in seiner Dankesrede eine kleine Fabel aus, in der ein fahrender Händler während eines Jahrmarkts in ein Dorf kommt und bei diversen Wettbewerben wunderbare Preise auslobt: Wahrheit, Schönheit, Freiheit, Güte und Frieden. Leider aber zeitigen diese Gewinne bei den jeweiligen Gewinnern unschöne Auswirkungen: Der Gewinner der Wahrheit verstört alle Dorfbewohner durch eben diese, die Dorfschönheit wird zu eitel, die Freiheit benimmt sich zu freizügig, und die Güte erklärt sich gar selbst zu einem Heiligen. Der Dorfbewohner, der den Friedenspreis gewann, aber sitzt nur noch lächelnd unter einem Baum, was für die anderen in Anbetracht der zunehmenden Spannungen erst recht unerträglich ist. Als der Händler im darauffolgenden Jahr wieder in das Dorf kommt, jagen die Bewohner ihn fort. Je nach Blickwinkel und Auswirkung auf die reale Welt, so Rushdie, können dieselben Eigenschaften, die "darin sind wir uns einig", zu den Tugenden zählen, zu Lastern werden. Diese Widersprüche und Ambivalenzen gilt es aushalten und unsere Haltung immer wieder neu auszutarieren.
Die größte Versuchung heißt Resignation
In diesem Jahr fällt das vielen von uns wohl besonders schwer. "Jauchzet, frohlocket" - wie sollen wir das singen oder unbefangen hören angesichts der Ungeheuerlichkeiten, die zeitgleich überall auf der Welt stattfinden, angesichts der Kriege an so vielen Orten, all der schrecklichen Gewalt, des Blut-Vergießens, des Elends, auch ganz in unserer Nähe. Schauen wir hin, bleiben wir stehen oder hasten wir vorbei am Flüchtling, der vor dem Supermarkt auf Spenden wartet, der Bedürftigen, die vor der Kirchentür an unser Herz appelliert?
"Freue dich, oh Christenheit", die Worte könnten uns im Hals stecken bleiben, wenn wir an die unerträglichen Bilder denken, die uns in den vergangenen Monaten aus Israel und Gaza erreichen. Auch bei ihrem Anblick gilt es, ambivalente Gefühle auszuhalten. Wir können doch mit beiden Seiten Mitgefühl und Trauer empfinden, wir müssen nicht das Leid der einen gegen das der anderen ausspielen oder aufwiegen. Der "holde Knabe im lockigen Haar", dessen Geburt wir Christen in diesen Tagen feiern, schaut uns in den Gesichtern der Kinder beider Seiten an, die in diesen komplizierten Konflikt hineingeboren und in ihm getötet werden oder obdachlos geworden sind oder anderweitig traumatisiert. Sehen, was ist, und doch die Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit nicht aufgeben - mit dieser Zumutung müssen wir leben. Die größte Versuchung hieße: Resignation.
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