Ein Archeologe bei der Ausgrabung eines Skeletts © ZUMAPRESS.com | Impact Press Group

Wiedergänger und Flüche: Vom Glauben an "Untote" in Norddeutschland

Stand: 18.05.2022 15:52 Uhr

Der wahre Kern des Mythos Vampire liegt weit in der Vergangenheit und vor allem weit weg von uns. Ist das tatsächlich so? Nicht unbedingt. Der Kreisarchäologe Daniel Nösler hat sich mit Untoten in Norddeutschland beschäftigt.

Herr Nösler, worüber reden wir genau, wenn wir über Untote sprechen?

Daniel Nösler: Wir reden über mythische Wesen, die nach dem damaligen Aberglauben nach dem Tode keinen Frieden finden konnten und verdächtigt waren, weiterzuleben. Das heißt, dass sie entweder das Grab verlassen haben oder aus dem Grab heraus Schadzauber durchführten. Das kann man so grob zusammenfassen.

Welche Spuren finden Sie von diesen Untoten hier in Norddeutschland?

Nösler: Das Interessante ist, dass wir in einigen Gräbern Abweichungen von der Norm finden. Im Christentum ist das Bestattungswesen genormt: Man liegt auf christlichen Friedhöfen auf dem Rücken und wird ohne Beigaben bestattet. Manchmal finden wir aber Abweichungen - sei es große Steine auf den Gräbern, Gegenstände im Mund, Pflöcke aus Eisen oder aus Holz, abgeschlagene Köpfe und Fesseln. Die Leute wurden auf den Bauch gedreht, damit der Schadzauber nicht in die Welt der Lebenden reicht, sondern ins Erdinnere, in die Welt der Toten. Immer wieder finden wir auch große Steine, die aufs Grab gelegt worden sind oder auf den Leichnam, damit er sich nicht mehr bewegen kann oder das Grab verlassen kann.

Wie sind denn die Menschen damals auf die Idee gekommen, dass ein bestimmter Verstorbener so ein Untoter sein könnte und dass man diese Maßnahmen ergreifen muss?

Nösler: Es ist ein ganzes Bündel. Ganz wichtig waren sicherlich große Seuchen. Bei Epidemien war es so, dass man die Erreger noch nicht kannte, das ist ja erst eine Entdeckung des 19. Jahrhunderts. Und wenn in einer dörflichen Gemeinschaft jemand starb, war es häufig so, dass dann erst mal die Familienangehörigen, die Nachbarn, die Freunde infiziert wurden und möglicherweise auch starben. Damals hat man gedacht, dass der Erstgestorbene die Überlebenden schädigt, ihnen die Lebenskraft aussaugt und nachholt. Das ist ein Aspekt, der damals eine große Rolle spielte, dieses nicht-erklären-Können von Seuchen und auch die Hysterie, die damals herrschte. Bei Pestepidemien starben teilweise die Hälfte aller Einwohner und man versuchte, alle Möglichkeiten zu nutzen, auch sehr irrationale.

Eine zweite Sache: Heutzutage sind der Tod und das Sterben rationalisiert, vielleicht fast industrialisiert. Man stirbt in Krankenhäusern, in Hospizen und man kann durch die Technik auf die Sekunde genau sagen, wann jemand tot ist. Das konnte man noch vor 100 Jahren nicht und da war der Übergang von der Welt der Lebenden in die Welt der Toten fließender. Man hielt Totenwache, zum Teil drei Tage lang, und in dieser Zeit begannen Veränderungen am Leichnam: Die Totenstarre löst sich, er kann sich noch bewegen, Geräusche entstehen. Dadurch billigte man von sich aus dem Leichnam noch ein gewisses Leben dazu.

Nicht ohne Grund steht auf den alten Grabsteinen häufig: Ruhe in Frieden. Es gab auch Personen, die man generell verdächtigt hat, dass sie im Tod kein Frieden finden würden - ob es Mörder waren, ungesühnte Verbrechensopfer oder Selbstmörder. Alle diese Leute waren verdächtigt und da hat man häufig vermutet, dass die wiederkehren müssen. Das ist also ein hochkomplexes und spannendes Feld.

Bis wann hat es das in Deutschland gegeben?

Nösler: Sie werden sich wundern: Im Grunde bis in die 1930er-Jahre können wir es sicher fassen. Damals gab es Befragungen für den sogenannten Atlas der Deutschen Volkskunde, und da war das noch relativ lebendig. In Prozessakten ist ein Fall von etwa 1932 überliefert, wo vier junge Männer ein Grab geöffnet, den Leichnam ausgegraben und den Kopf abgeschlagen haben, weil sie vermutet haben, dass der Tote ein Untoter ist. Das ist dann auch verurteilt worden.

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Sie sind auch auf Draculas Spur nach Transsilvanien gereist, wo dieser Aberglaube auch heute noch eine viel größere Rolle spielt als bei uns, oder?

Nösler: Auf jeden Fall. Rumänien ist ja, wie wie man aus den einschlägigen Filmen und Büchern weiß, das klassische Vampir-Land. In der dörflichen, ländlichen Bevölkerung ist dieser Glaube dort absolut präsent. Vom Dorfpfarrer bis zum Bürgermeister, jung und alt - alle glauben daran, und in jedem Dorf gibt es auch Einwohner, die wissen, was zu tun ist. Dort gibt es zum Beispiel die Leichenwäscherin: Wenn jemand schon zu Lebzeiten verdächtigt wird, später wiederzukommen, weiß man schon vor der Beerdigung, was man zu tun hat. Es gibt Beschwörungen, die durchgeführt werden, Weihrauch wird abgebrannt, und in manchen Gegenden sticht man mit großen Eisennadeln durch den Bauchnabel, um diesen Untoten zu bannen.

Sie sind Kreisarchäologe in Stade. Man stellt sich vor, dass Sie sich vielleicht mit Münzen, mit Tonkrügen beschäftigen, die Sie ausgraben. Wie sind Sie denn zu diesem besonderen Schwerpunkt gekommen?

Nösler: Also nicht, weil ich mich vorher viel mit Vampirfilmen oder -büchern beschäftigt habe, sondern man ist, wie so oft als Archäologe, dem Zufall unterworfen. Ich habe vor 18 Jahren eine Grabung im brandenburgischen Kloster Heiligengrabe geleitet, und dort haben wir auf dem Klosterfriedhof ausgegraben und eine Nonne entdeckt, die im Mittelalter dort bestattet wurde. Die hatte zwei Münzen im Mund und das hielt ich für ungewöhnlich. Normalerweise gab es so was nicht und schon gar nicht auf einen katholischen Friedhof in einem Kloster. Dann habe ich jahrelang recherchiert und bin irgendwann auf diesen Untoten-Glauben als Erklärung gestoßen. Ich habe über Jahre Belege dafür gesammelt, mich mit Kollegen unterhalten, gelesen und so weiter - und so ist das Interesse immer weiter gewachsen.

Und haben Sie selbst eine Lieblingsvampirfigur, in Literatur oder im Film?

Nösler: Ja, auf jeden Fall: Das sind die Weißen Wanderer bei "Game of Thrones". Das ist die eher grausame Variante, aber die finde ich wunderbar dargestellt.

Das Interview führte Jan Wiedemann.

 

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 18.05.2022 | 16:45 Uhr

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