Lilian Thuram und Alexander Solloch © NDR.de/ Timo Schröder Foto: Timo Schröder

Lilian Thurams Kampf gegen den Rassismus

Stand: 24.06.2022 12:17 Uhr

Der französische Fußballweltmeister Lilian Thuram hat nach seiner Karriere als Sportler mehrere Bücher herausgebracht. In diesem Frühjahr erschien "La pensée blanche - Das weiße Denken" auf Deutsch. Ein Gespräch.

Lilian Thuram © picture alliance / TT NEWS AGENCY | Duygu Getiren/TT Foto: Duygu Getiren/TT
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Einer der größten Fußballer, die Frankreich jemals hatte, ist heute einer der vehementesten Streiter gegen Ungerechtigkeit, Ausgrenzung und Rassismus. Der französische Rekordnationalspieler Lilian Thuram - einer der entscheidenden Wegbereiter des WM-Triumphs 1998 - ist nach seiner Karriere als Sportler in die Bildungsarbeit gegangen, hat die Stiftung "Éducation contre racisme" gegründet und ist als Autor mehrerer Bücher hervorgetreten. Sein jüngstes ist in diesem Frühjahr auf Deutsch erschienen: "La pensée blanche - Das weiße Denken". Gerade hat Lilian Thuram es in mehreren deutschen Städten vorgestellt.

Man hat nicht jeden Tag die Chance, einen echten Weltmeister zu treffen. Es gibt ja nicht so viele. Ich habe nachgezählt und bin auf ungefähr 250 noch lebende Fußballweltmeister gekommen. Was bedeutet es für Sie, Weltmeister zu sein? Inwiefern hat das Ihr Leben verändert?

Lilian Thuram: Es ist die Erfüllung eines Kindheitstraums. Wenn man ein kleiner Junge ist und mit seinen Freunden auf dem Fußballplatz spielt, stellt man sich vor, man spielt jetzt das WM-Endspiel - und gewinnt es. Als das dann 1998 tatsächlich passiert ist, hat sich das unglaublich angefühlt. Und ich gebe zu: Das tut es auch heute noch! Ich denke immer noch manchmal: Dieser Wettbewerb, den ich gewinnen durfte, kann doch nicht derselbe sein, in dem solche Größen wie Platini, Kempes oder Maradona gespielt haben! Da ist ein tiefes Glück in mir - und das ist immer da.

Kommt es manchmal vor, dass Sie morgens wach werden und denken: Oh, ich bin ja Weltmeister, gar nicht mal so schlecht!?

Thuram: Ja wirklich, ganz genau! Das passiert mir immer wieder, dass ich denke: unglaublich! Ein magisches Gefühl.

In Frankreich kennt Sie jeder. Ich habe gelesen, dass vor 24 Jahren überdurchschnittlich viele Neugeborene "Lilian" genannt wurden. Aber auch in Deutschland kennen viele Menschen Ihren Namen. In den letzten Tagen habe ich mir im Netz Videos angeguckt, die zeigen, wie Sie einst Fußball gespielt haben. Eine gelungene Grätsche kann manchmal sogar viel schöner sein als ein Tor, oder?

Thuram: Das würde ich nicht sagen, denn am kompliziertesten ist es im Fußball immer noch, Tore zu schießen. Tore sind es ja, die die großen Gefühle in den Zuschauern auslösen - und auch in den Spielern! Auch mir als Verteidiger ist es so gegangen: Wenn die eigene Mannschaft ein Tor erzielt hat, dann hat mich das sehr glücklich gemacht. Ich weiß nicht, ob eine Grätsche auch solche Emotionen erzeugt. Aber eine Grätsche kann natürlich sehr nützlich sein, wenn der gegnerische Angreifer an einem vorbeigezogen ist.

Wie geht die perfekte Grätsche? Kann man die lernen?

Thuram: Ja, klar! Zunächst einmal muss man dieses Mittel mögen. Man muss wissen, dass es sehr aggressiv angewandt werden muss, aber zugleich auch technisch sauber: Man muss unbedingt den Ball erwischen, sonst ist es ein Foul und womöglich ein Elfmeter für den Gegner. Ich habe das Grätschen sehr gemocht. Wenn der Angreifer an mir vorbeigezogen ist und ich ihm auf den Fersen war, wusste ich: Es gibt diesen einen Moment, in dem er kurz abstoppen muss, um den Torwart anzuvisieren - ein winziger Augenblick - und da muss ich eingreifen!

Die italienische Zeitung "La Gazzetta dello Sport" hat Sie mal als "Zidane der Defensive" bezeichnet. Akzeptieren Sie diese Zuschreibung?

Thuram: Naja, ich habe ja keine Wahl!

Sie könnten Klage einreichen.

Thuram: Daran habe ich noch nicht gedacht! Nein, man muss diesen Gedanken im Kontext seiner Zeit betrachten. Zidane galt als einer der besten Spieler der Welt - und das würde nun bedeuten, dass ich einer der besten Verteidiger der Welt gewesen wäre. Das kann ich nur gut finden.

Ist, Verteidiger zu sein, gewissermaßen Ihre Lebensart? Oder hat das mit dem Lilian Thuram von heute nichts mehr zu tun? Sind Sie inzwischen zum Angreifer geworden?

Thuram: Ich finde, man macht sich manchmal gar nicht klar, dass Fußballer eine Position auf dem Spielfeld einnehmen, die durchaus ihrem Charakter entspricht. Als ich jung war, habe ich nicht als Verteidiger gespielt. Zum Verteidiger hat man mich erst beim AS Monaco gemacht. Das fand ich zunächst auch überhaupt nicht gut. Man sagt ja immer: Verteidiger haben keine Technik, die können nichts am Ball, schüren keine großen Gefühle. Ich wollte natürlich wie jeder Junge Tore schießen, Dribblings machen und so weiter. Ich habe es also nur widerwillig hingenommen, Verteidiger zu werden.

Irgendwann ist mir klar geworden, dass das die wichtigste Rolle auf dem Platz ist und dass sie mir vollkommen entspricht. Das heißt: da sein, präsent sein, den Gegner nicht vorbeilassen und zugleich die Regeln befolgen. Das bringt den Gegner nämlich noch mehr durcheinander: wenn man die Regeln beachtet und ihn dafür auf anderen Gebieten schlägt, zum Beispiel im Bereich der Spielintelligenz. Als Verteidiger muss man sehr gut darin sein, das Spiel zu lesen, zu erkennen, was gleich passieren könnte und was die Angreifer gleich tun werden.

In den Videos, die ich mir zur Vorbereitung angeschaut habe, war kein einziges Foul von Ihnen zu erkennen. Aber Sie werden schon welche begangen haben hin und wieder?

Thuram: Das freut mich, dass Sie das sagen. Das habe ich nämlich immer versucht: Fouls zu vermeiden. Ich bin tatsächlich ein Spieler, der sehr selten gelbe Karten bekommen hat.

Interessant, dass Sie gesagt haben: "Ich bin ein Spieler" und nicht "Ich war ein Spieler". Man bleibt also immer Fußballer?

Thuram: Ja, stimmt, gebe ich zu. Im Geiste bin ich es immer noch.

Wir haben über das Glück, Weltmeister zu sein, gesprochen. Kann man sagen, dass Sie sich manchmal von den Göttern geküsst fühlen?

Thuram: Ja, ich glaube, das bin ich wirklich. Nicht nur weil ich Fußballer war, sondern überhaupt wegen des Lebens, das ich bislang hatte. Ich bin in einem kleinen Dorf auf Guadeloupe geboren, unsere Mutter ist dann aufs französische Festland gezogen, in den Raum Paris. Sie hat gearbeitet, hat gespart, dann hat sie uns Kinder zu sich nach Paris geholt. Es war mir wirklich nicht vorherbestimmt, Fußballer zu werden oder hier mit Ihnen ein Radiogespräch zu führen. Ich glaube, ich habe sehr viel Glück gehabt.

Da wir gerade von den Göttern sprechen, die Sie geküsst haben: Wie stellen Sie sich Gott eigentlich vor?

Thuram: Auf jeden Fall ist Gott eine Frau. Kann gar nicht anders sein. Eine schwarze, sehr elegante Frau mit wechselnden Gesichtern. Manchmal glaube ich mit dem Gesicht meiner Mutter.

In Ihrem Buch "Das weiße Denken" lesen wir, dass Sie diese Frage manchmal Kindern stellen: "Wie stellt ihr euch Gott vor?" Und die allermeisten, auch die dunkelhäutigen, antworten: weißer Bart, weiße Haare, weiße Haut. Sie nennen das die "Weißwaschung" unseres Denkens. Was verstehen Sie darunter? Man könnte meinen, Gedanken haben doch keine Farbe?

Thuram: Doch, das Denken kann durchaus eine Farbe haben. Wenn ich vom "weißen Denken" spreche, dann spreche ich von der historischen Epoche, in der die Idee entwickelt wurde, dass es menschliche "Rassen" gebe, und in der man diese "Rassen" klassifiziert hat und festgelegt hat: Die weiße "Rasse" ist die überlegene. Alles, was in irgendeiner Weise "gut" ist und bedeutend, wird von da an "weiß". Tatsächlich glaube ich, dass die allermeisten Menschen, wenn sie sich Gott vorstellen, denken, dass er ein weißer Mann ist. Dabei hat ihn doch noch keiner gesehen! Das Denken kann uns also dazu verleiten, die Dinge auf eine ganz bestimmte Weise wahrzunehmen.

Genau darum geht es in Ihrem Buch: um die "Weißwaschung" unseres Denkens im Laufe der Jahrhunderte. Es ist nun kein Buch, das sich auf die Opfer des Rassismus konzentriert, sondern eher auf die, die von Diskriminierungen profitieren - und auf die rassistischen Strukturen in unserer Gesellschaft: Strukturen, die seit Jahrhunderten tradiert werden. Warum haben Sie sich für diesen Ansatz entschieden, mehr über die Täter, über die Strukturen zu sprechen als über die Opfer?

Thuram: In diesem Buch denke ich vor allem über die Identitäten nach, die wir uns täglich zu eigen machen. Wir sagen: Ich bin weiß, ich bin schwarz, aber wir kennen gar nicht die Geschichte hinter diesen Identitäten. Ich versuche zu zeigen, dass es sich dabei im Wesentlichen um politische Konstruktionen handelt. Sie sind keine Realität. Einen Menschen, der tatsächlich so "weiß" wäre wie ein Blatt Papier, gibt es nicht. Oft frage ich die Leute: "Warum sagst du, dass du weiß bist?" Sie wissen keine Antwort und sagen nur: "Ist halt so."

Warum sagt man, was man sagt? Warum denkt man, was man denkt? Das hat alles eine Geschichte. Diese Geschichte muss man kennen, vor allem die Geschichte der "Rassifizierung" unserer Welt. Ich will den Leuten zeigen: Von Beginn an ist der Rassismus ein Trick, der dazu dient, die Anwendung wirtschaftlicher Gewalt zu legitimieren. Sklaverei und Kolonisation sind keine Systeme, in der einzelne Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe gegeneinander kämpfen; es sind rein ökonomische Systeme. Jedes ökonomische System bringt eine Rhetorik hervor, die seine Gewalt rechtfertigen soll. Mein Buch sagt: Lasst uns alle den Mut haben, diese Hautfarbenidentitäten in Frage zu stellen und nur noch als Menschen miteinander zu sprechen - als Menschen, die für eine Politik der Solidarität eintreten. Nur so überwinden wir den Rassismus.

Würden Sie sagen, Rassismus ist keine individuelle Entscheidung oder Neigung, sondern er ist fester Bestandteil unserer Gesellschaft, wie sie nun mal ist?

Thuram: Genau. Auch wenn Sie Sexismus untersuchen, stellen Sie fest, dass er ein kulturelles Phänomen ist, etwas Gemachtes. Er hat eine Geschichte: Vor nicht allzu langer Zeit war in der Rechtsprechung unserer Länder - in Frankreich wie in Deutschland - noch der Grundsatz verankert, dass der Mann mehr Rechte hat als die Frau. Darum existiert Sexismus. Genauso verhält es sich beim Rassismus: Mehr als 250 Jahre lang war im französischen Recht festgeschrieben, dass Weiße mehr Rechte haben als Nicht-Weiße. Dieser institutionelle Rassismus hat in Frankreich erst in den 1960er-Jahren aufgehört, vor ganz kurzer Zeit also. Ist doch klar, dass dieses Denken fortbesteht.

Man muss sich nur mal die eigene Familiengeschichte vornehmen. Mein Großvater ist 60 Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei zur Welt gekommen. Manchmal scheinen die Menschen zu glauben, die Sklaverei sei tiefste Vergangenheit, aber sie ist noch immer nah. Meine Mutter wurde 1947 geboren. Da gab es in Amerika noch die Rassentrennung. Es gab noch die Kolonialpolitik. Ich bin Jahrgang 1972, da gab es noch die Apartheid in Südafrika. Das dürfen wir einfach nicht vergessen: dass die Vorherrschaft der Weißen in den verschiedenen Rechtssystemen festgeschrieben war und sich damit logischerweise auch in unserer Kultur, unserer Art zu denken und zu reden festgesetzt hat.

Und trotzdem ist die Sklaverei vorbei. Also braucht es - sogar mit zynischer Betrachtungsweise - jetzt doch keinen Rassismus mehr, oder?

Thuram: Wir bestehen nun einmal aus den Geschichten, die man uns erzählt. In diesem Zusammenhang spreche ich gern von Christoph Columbus. Ich gehe in Schulklassen und frage die Kinder: "Kennt ihr Christoph Columbus?", und egal, ob in Europa, Asien oder Afrika: Die Kinder antworten mir immer: "Ja, der hat doch Amerika entdeckt!" Ich sage: "Ach, wirklich? Stellen wir uns doch mal vor, wir wären gemeinsam mit Christoph Columbus an Bord eines Schiffs. Seht ihr die Menschen da am Strand? Die sagen nicht, Christoph Columbus habe Amerika entdeckt. Die waren nämlich schon vor ihm da. Habt ihr diese Geschichte jemals aus ihrer Perspektive erzählt bekommen?" Wenn man also sagt, Christoph Columbus habe Amerika entdeckt, errichtet man eine Hierarchie: Jemand existiert erst dann, wenn die Europäer kommen und ihn zur Kenntnis nehmen.

Vom deutschen Autor Georg Christoph Lichtenberg, der vor fast 300 Jahren gelebt hat, gibt es den schönen Satz: "Der Amerikaner, den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung." Es gibt also immer auch eine andere Perspektive.

Thuram: Immer! Und das Interessante ist: Die Perspektiven zu vervielfältigen bedeutet, eine Sache in ihrer Komplexität zu begreifen. Und das macht uns viel klüger.

Sie haben es schon kurz skizziert: Geboren 1972 auf Guadeloupe, mit neun Jahren nach Paris gezogen und seitdem wissen Sie, was es bedeutet, als Schwarzer wahrgenommen zu werden. Ihnen ist, schreiben Sie, "die Maske eines Schwarzen" aufgesetzt worden. Glauben Sie, dass es Ihnen möglich war, möglich ist, möglich sein wird, diese Maske zu zerreißen?

Thuram: Ich habe die Maske schon zerrissen. Sonst könnte ich nicht so gelassen über Rassismus sprechen. Als ich mit neun nach Paris gekommen bin, wo mich einzelne Mitschüler als "dreckigen Schwarzen" beschimpft haben, war ich gezwungen, mich mit dieser Frage zu beschäftigen: Warum werden Schwarze so gesehen? Ich bin nach solchen traumatisierenden Erfahrungen nach Hause gegangen und habe das meine Mutter gefragt. Sie hat gesagt: "Das ist nun mal so. Die Menschen sind Rassisten. Das wird sich niemals ändern." Es ist gewissermaßen etwas Unabwendbares.

Nicht sehr ermutigend für ein Kind.

Thuram: Nein, aber mit dem Wissen, dass Generation auf Generation diese Diskriminierung hat ertragen müssen, wollte meine Mutter mir sagen: "Wenn du dich damit lange aufhältst, wirst Du nicht leben können. So ist das nun mal. Gewöhne dich lieber daran!" Viele Eltern erziehen ihre Kinder in diesem Sinne. Darum habe ich mich gefragt: Was spielt sich in den Köpfen von Neunjährigen ab, die mich so beleidigen? Sie denken, weiß zu sein, sei etwas Besseres. Aber wann sind sie eigentlich weiß "geworden"? Deshalb finde ich es wichtig, darüber zu sprechen, damit diese Kinder ihre weiße Maske abnehmen können und ich meine schwarze Maske abnehmen kann und wir uns nur noch als Menschen gegenüberstehen. Dafür aber muss man die Geschichte der Rassifizierung kennen.

Also müssen auch die, die sich für "weiß" halten, ihre Maske zerreißen - und dann zeigt sich das Gesicht eines Menschen?

Thuram: Ganz genau. Man macht sich nicht klar, in welchem Ausmaß man unbewusst alte überkommene Verhaltensweisen reproduziert, wenn man sich in einer Identität verbarrikadiert. Das heißt: Sie sind ein Mann. Sie sind keine Frau. Sie sind zum Mann erzogen worden. Man hat Ihnen gesagt: Ein Mann muss dies tun, darf das nicht tun. Wenn Sie eine Frau sind, sagt man Ihnen: Schau, das ist deine Rolle, du musst dies und das tun. Das ist gefährlich. Man reproduziert alte Gedanken, die den Mann zur Norm erklären, zu demjenigen, dem die Frau zu Diensten zu sein hat. Sie hat die Hausarbeit zu machen. Der Mann wird sich um so etwas nicht kümmern, weil ihm die Rolle des Familienoberhauptes zufällt, des Bestimmers, desjenigen, der das Wort ergreift. Und wenn die Frau daran etwas ändern will, wird man ihr kaum zuhören. Und wenn sie allzu sehr darauf besteht, wird man sie für "hysterisch" erklären. Das ist die Geschichte der Hierarchie; und wir müssen nun so klug sein, damit aufzuhören, und das zu sehen, was man bislang nicht gesehen hat. Es gibt bestimmte Redeweisen, Verhaltensweisen, die nicht mehr akzeptabel sind. Sie kommen aus der Vergangenheit.

Glauben Sie nicht trotzdem, dass es einen Fortschritt gibt? Dass die Menschen sensibler geworden sind für Diskriminierungen, dass es heute leichter ist als früher, Rassismus anzuprangern und zu bekämpfen, dass es inzwischen viele Bemühungen gibt, Dinge zu ändern, sprachliche Bemühungen zum Beispiel, ein gesteigertes Interesse daran, Menschen mit Diskriminierungserfahrung zuzuhören, den Willen, Straßennamen zu ändern, wenn sie einen rassistischen Hintergrund haben? Der deutsche Schriftsteller Günter Grass hat gesagt: "Der Fortschritt ist eine Schnecke." Aber: Er existiert immerhin, oder?

Thuram: Ja, es ist schon interessant, den Fortschritt zu analysieren. Natürlich ändern sich die Dinge. Warum? Weil es immer Männer und Frauen gegeben hat, die gegen Ungerechtigkeiten aufgestanden sind!  Jeder von uns muss da anknüpfen. Die Dinge ändern sich nur langsam. Warum? Man vergisst allzu leicht, dass viele Menschen überhaupt keine Veränderung wollen. Mal angenommen, in jedem Land auf der Welt würde entschieden, ab morgen die Kinder zu Antirassisten zu erziehen. Das würde einen radikalen Wandel bringen! Warum geschieht das nicht? Die Dinge gehen sehr langsam voran, weil die große Mehrheit keinen Wandel möchte. Ich sage den Leuten immer: Seid sehr wachsam! Wenn es um Rassismus, Sexismus, Homophobie geht, kann man nicht neutral sein! Wer neutral ist, nimmt hin, dass sich nichts ändert.

Welche Macht hat der Fußball, die Welt zu verändern?

Der Fußball hat wirklich eine gewaltige Macht. Er ist die beliebteste Sportart auf der Welt. Man kann mit Hilfe des Fußballs eine emotionale Verbindung zu unglaublich vielen Menschen herstellen und ihnen auf diese Weise bestimmte Fragestellungen und Botschaften übermitteln. Gestern habe ich zum Beispiel hier in Hamburg den FC St. Pauli besucht. Das ist einfach unglaublich: Alle Vereine auf der Welt sollten so sein! Dieser Verein hat verstanden, welche politische Kraft der Fußball hat. Man hört oft scheinheiliges Gerede wie: "Fußball und Politik darf man nicht miteinander vermengen." Aber Fußball ist Teil der Gesellschaft und darum auch politisch. Alles in der Gesellschaft ist politisch. Der Fußball muss sich diese emotionale Kraft zunutze machen für den Kampf um Gleichberechtigung. Damit würden wir viel Zeit gewinnen.

Sie sind einer der größten französischen Fußballer. Warum sind Sie dermaßen allergisch gegen das Toreschießen gewesen? Sie waren Abwehrspieler, trotzdem: nur 2 Tore in 142 Länderspielen. Wie ist das zu erklären?

Thuram: Also bitte, das ist keine Allergie! Es gibt nun mal Spieler, die wissen, wie man Tore erzielt, und solche, die es nicht wissen. Zu letzteren gehöre ich. Wir leben heute in einer Welt, in der der Wert eines Menschen nach statistischen Größen bemessen wird. Man fragt nur noch: "Wie viele Tore schießt dieser Spieler?" Das war früher anders. Ich war Abwehrspieler, Teil einer Mannschaft, eines Kollektivs, in dem ich eine ganz bestimmte Rolle einzunehmen hatte. Zu verteidigen war mir ein Vergnügen, es war genial! Heutzutage lässt man die Spieler glauben, dass die Anzahl ihrer Tore ihren Wert ausmache. Das stiftet extremen Egoismus. Viele Menschen sind nicht mehr bereit, sich in den Dienst der anderen zu stellen.

Das Gespräch führte Alexander Solloch.

Weitere Informationen
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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Das Gespräch | 26.06.2022 | 13:00 Uhr

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