Der Ukraine-Krieg und die pazifistische Idee
In seinem Essay setzt sich Jochen Rack unter dem Eindruck der aktuellen Ereignisse in der Ukraine mit den inneren Widersprüchen der Friedensbewegung auseinander.
Die Ostermärsche, die in diesem Jahr unter dem Eindruck des Ukraine-Krieges stattfinden, haben eine lange Tradition in Deutschland, man könnte sie als deutschen "Erinnerungsort" beschreiben. Als Institution des zivilgesellschaftlichen Protests gegen die atomare Aufrüstung waren sie für die Bundesrepublik identitätsprägend. Die Ostermarschierer, die sich 1960 zum ersten Mal von Hamburg aus auf den Weg machten, knüpften an die britische Bewegung für nukleare Abrüstung in den 1950er-Jahren an, und sie hatten die Mahnungen des Philosophen Karl Jaspers im Kopf, der in seinem Buch "Die Atombombe und die Zukunft des Menschen" angesichts der möglichen kollektiven Selbstvernichtung eine neue vernunftgeleitete Weltpolitik forderte. Man befand sich in der Hochphase des Kalten Krieges mit einem beispiellosen atomaren Wettrüsten, bei dem sich die beiden Supermächte USA und UdSSR mit der Androhung tausendfacher Vernichtung gegenseitig in Schach hielten. Massive Vergeltung hieß die militärische Strategie, die mögliche Opferzahlen beim atomaren Schlagabtausch in Megatoten rechnete.

Die Ostermärsche verbanden die Forderung nach atomarer Abrüstung und dem internationalen Verbot von Atomwaffen mit der christlichen Hoffnung auf einen Sieg über den Tod, den die Auferstehung Jesu an Ostern bedeutet. Die deutsche Friedensbewegung war aber nicht nur eine Reaktion auf die Atomkriegsangst, sondern auch eine moralisch-politische Antwort auf den von Hitler begonnenen Zweiten Weltkrieg, der 50 Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Die "Aufarbeitung der Vergangenheit", nicht zuletzt des Holocaust, führte zu der Forderung "Nie wieder Krieg!" und einer Ablehnung der sogenannten Wiederbewaffnung.
Die Grenzen des Pazifismus
Pazifismus wurde in jenen Jahren zum schlechten Gewissen der Abschreckungspolitik und zur Forderung nach Abrüstung der nuklearen Potentiale. Wenn ein Krieg automatisch den Atomkrieg, also die Selbstvernichtung der Menschheit bedeutete, war "Frieden schaffen ohne Waffen" die einzige vernünftige Option.
Allerdings versteckte sich in diesem Antiatom-Pazifismus eine weitergehende Forderung nach einem Abbau auch der konventionellen Waffen, die nicht so selbstverständlich war. Denn die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges hatte gelehrt, dass man ein verbrecherisches System wie das der Nazis, das für die Ermordung von sechs Millionen Juden und den Tod von Millionen Zivilisten verantwortlich war, nicht mit pazifistischer Politik besiegen konnte. Appeasement ist gegenüber einem Diktator, der zu allem entschlossen ist, keine aussichtsreiche Strategie - daran wird heute nicht zufällig mit Blick auf Putins Krieg gegen die Ukraine erinnert. Hitler wurde militärisch besiegt, weil die Länder der sogenannten freien Welt - Großbritannien und die USA vor allem - bereit waren, Waffengewalt einzusetzen und eigene Opfer in Kauf zu nehmen. Der Pazifismus steht, wie Karl Jaspers schrieb, in der "Gefahr der Unterwerfung unter… die Gewalt des Totalitären".
Die schizophrene westdeutsche Gesellschaft
Der "konventionelle" Krieg diesseits der atomaren Auseinandersetzung kann durchaus eine Ultima Ratio der Politik sein, um Frieden, Freiheit und Menschenrechte zu verteidigen. Im Völkerrecht spricht man inzwischen von der "humanitären Intervention" und einer "responsibility to protect". Die deutschen Friedensaktivisten vergaßen das zu leicht, weil sie bei den konventionellen Kriegen, die seit dem Zweiten Weltkrieg geführt worden waren, vor allem an den Korea- und Vietnamkrieg der USA oder den Afghanistankrieg der UdSSR dachten, die man zu Recht als imperialistische Kriege anklagen konnte.
So entstand eine gewisse Schizophrenie in der westdeutschen Gesellschaft: Während zur Landes- und Bündnisverteidigung im Rahmen der NATO und unter den Bedingungen der allgemeinen Wehrpflicht ein stehendes Heer von 500.000 bundesdeutschen Soldaten unterhalten wurde, um einen potentiellen konventionellen Angriff des Warschauer Paktes parieren zu können, demonstrierten gleichzeitig Hunderttausende gegen die Nachrüstung und forderten nicht nur "Hopp hopp hopp, Atomraketen stopp", sondern auch - einen Slogan der DDR-Friedensbewegung aufnehmend - "Schwerter zu Pflugscharen".
Ist es besser, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun?
Der Pazifismus der Friedensbewegung zielte nicht nur auf die atomare Abrüstung, sondern, darüberhinausgehend, auf eine Ent- und Demilitarisierung der Gesellschaft überhaupt, den Verzicht auch auf konventionelle Waffen. Die Kirchen spielten in dieser pazifistischen Bewegung eine wichtige Rolle, weil sie den Begriff Frieden eschatologisch unterfütterten - durch das Aufrufen alttestamentarischer Propheten wie Jesaja 11,6: "Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen." Oder durch Hinweis auf die Bergpredigt des Neuen Testaments, in der Jesus verkündet hatte: "Selig, die Frieden stiften, sie werden Söhne Gottes genannt werden." Nach christlicher Deutung hatte Jesus durch seinen Märtyrer- oder Opfertod die ethische Maxime beglaubigt, es sei besser, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun, im Konfliktfall lieber die andere Backe hinzuhalten und sich schlagen zu lassen, als selbst Gewalt anzuwenden und zurückzuschlagen.
- Teil 1: Die Grenzen des Pazifismus
- Teil 2: Gewalt verlangt im Notfall Gegengewalt
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