Debatte um "kulturelle Aneignung": Alles geklaut?
Ein Winnetou-Buch wird zurückgezogen, weil es den Massenmord an den amerikanischen Ureinwohnern romantisiere. In Bern wurde ein Konzert abgebrochen, weil einige der weißen Musiker Dreadlocks trugen. Welche kulturellen Anleihen sind legitim, welche sind es nicht?
Etliche weiße Popstars stehen derzeit in der Kritik: Man wirft ihnen "kulturelle Aneignung" vor, die Übernahme von Stilelementen der afroamerikanischen Popkultur. Ganz neu ist dieser Vorwurf nicht: Schon Elvis Presley wurde beschuldigt, mit "schwarzer" Musik Millionen verdient zu haben, während die Urheber dieser Kunst in Unterdrückung lebten. Kann die Popmusik, kann und soll Kunst überhaupt "gerecht" sein, was würde das bedeuten? Hinter der aktuellen Diskussion, so die These des Kulturjournalisten Ralf Schlüter, wird eine fundamentale Verschiebung sichtbar: Der Vorrang der Kunstfreiheit wird in Frage gestellt, im Namen der Ethik.
Popstar Billie Eilish in der Kritik
Keine Auszeichnung in der Musikwelt ist so wertvoll wie der Grammy; er ist so etwas wie der Oscar des Pop. Die Amerikanerin Billie Eilish hat ihn gleich sieben Mal gewonnen, eine fast unwirkliche Erfolgsbilanz für eine Popsängerin, die gerade mal 19 Jahre alt ist. Eilish verdankt ihren Ruhm einer magischen Mischung aus Musik und Image: Ihre Stimme klingt bedrohlich nahe, als hauche sie uns ihre cool-melancholischen Songs direkt ins Ohr, ihr Style kombiniert bleichen Vampirlook mit grellen Oversize-Jacken, in ihren Videos weint sie schwarze Tränen oder raubt lässig eine Shopping Mall aus. Man könnte also sagen: Billie Eilish hat sich selbst als bizarre Teenie-Kunstfigur erfunden. Sie allein?
In redaktionellen und sozialen Medien steht der Popstar seit Monaten in der Kritik. Eilish stammt aus einer weißen irisch-stämmigen Familie, und es heißt, sie habe es versäumt, in ihren Dankesreden etwas Wichtiges zu erwähnen, nämlich die afroamerikanische Popkultur. Von der habe sie viel übernommen, um nicht zu sagen: geklaut.
Von Online-Magazinen wie "Juelzy" oder "Papermag" wird Eilish vor allem für ihre Sprache und ihren Style kritisiert: Sie singe aus Coolness-Gründen mit "schwarzem" Akzent ("Blaccent") und ihre Übergrößen-Outfits habe sie direkt aus der afroamerikanischen Streetwear der 1990er- und der Nullerjahre übernommen. Der Vorwurf lautet auf Bereicherung an fremden ästhetischen Ressourcen, kurz: auf kulturelle Aneignung.
Billie Eilish ist nicht die einzige, der "Cultural Appropriation" vorgeworfen wird. Wer dem Stichwort nachgeht, stößt auf hitzige Debatten über Stars wie Justin Bieber, Miley Cyrus oder Katy Perry. Die Zugehörigkeit zu einer entsprechend markierten Minderheit schützt übrigens nicht vor diesem Vorwurf: Auch die Afro-Amerikanerin Beyoncé Knowles wurde schon beschuldigt, sich an der indischen Kultur zu bereichern, in einem Video posierte sie als Bollywood-Star.
Was sollte ein weißer Mensch sich zu eigen machen, was nicht?
In Deutschland ist diese Debatte um "kulturelle Aneignung" auch schon angekommen. Allerdings weniger als Pop-Thema, sondern es geht hier - vielleicht ein bisschen typisch deutsch - um Karneval. Ist es okay, sich als sogenannter "Indianer" oder "Eskimo" zu verkleiden? "Ich bin kein Kostüm", sagen neuerdings Gruppen, die jahrhundertelang nur als klischeehafte Abziehbilder in der deutschen Kultur auftauchten.
Man merkt schon am Beispiel mit dem Karneval, dass es ganz leicht ist, diese Debatte ins Lächerliche zu ziehen. Was soll schon so schlimm sein an einem harmlosen Kostüm? Und kann nicht jeder so singen und sich anziehen, wie er möchte? Man merkt an den oft empfindlichen Reaktionen auf den Versuch, solche Fragen überhaupt zu stellen, wie selbstverständlich uns bestimmte Dinge vorkommen. Uns, den weißen Europäer*innen, die niemals wegen ihrer Hautfarbe schief angeschaut wurden. Uns hat nie jemand gefragt, ob er unsere Haare mal anfassen darf oder wo wir eigentlich ursprünglich herkommen. Wir werden auch nicht gönnerhaft dafür gelobt, dass wir so gut Deutsch sprechen. Selbst jemand mit schwarzer Hautfarbe, der zum Beispiel in Hannover geboren ist, muss sich solche Dinge mit deprimierender Regelmäßigkeit anhören. Diskriminierung hat viele Aspekte; die kulturellen Facetten, um die es jetzt in Deutschland geht, wurden schon in den 90er-Jahren diskutiert, vor allem in den USA, damals vor allem in akademischen Kreisen unter dem Stichwort "cultural studies".
Die Fragen, die dort gestellt wurden und bis heute gestellt werden, sind im Grunde immer die gleichen: Was sollte ein weißer Mensch sich zu eigen machen, was nicht? Ist es zum Beispiel in Ordnung, Dreadlocks zu tragen, wenn man die Kultur Jamaikas nur aus den Medien kennt? Und damit auch die Umstände, unter denen die Menschen dort leben, die diese Kultur als Ausdruck ihrer Identität betrachten?
Popmusik als zentrales Element der Debatte
Es ist kein Wunder, dass die Popmusik im Zentrum der Debatte steht. Sie ist eine Kunstform, die lange Zeit von Weißen dominiert war und die zweifellos auf kultureller Aneignung beruht: Ohne den Afro-Einfluss wäre Elvis Presley ein Schlagersänger ohne Biss gewesen, der Blues als Grundlage ganzer Musikrichtungen wäre unbekannt, Liebesliedern würde das spirituelle Element des Soul fehlen. Jazz, die weltweit geschätzte "Kunstmusik des 20. Jahrhunderts", wäre so nicht entstanden, ebenso der Hiphop, die dominante, paradigmatische Musik im heutigen Pop.
Das alles ist nicht neu. Nur wurde es lange Zeit nicht als Problem gesehen. Im Gegenteil: Weiße Hipster hielten sich zugute, dass sie dem Konservatismus ihrer Elternhäuser die subversive Kraft des Swing, des Beat, des Groove entgegensetzten.
- Teil 1: Popstar Billie Eilish in der Kritik
- Teil 2: "Warum mögen alle afroamerikanische Kultur, aber niemand mag Afroamerikaner?"
