Osteuropa-Historiker Philipp Ther über den Krieg in der Ukraine
Welche Ziele verfolgt Russlands Präsident Putin in der Ukraine und was sind die Hintergründe von Sätzen wie "Entnazifizierung der Ukraine". Der Osteuropa-Historiker Philipp Ther sprach mit NDR Kultur über den Krieg in der Ukraine.
Der Krieg in der Ukraine rührt an Grundfesten des westlichen Selbstverständnisses und der Friedensordnung in Europa. Vor drei Jahrzehnten sah es für einen welthistorischen Augenblick so aus, als wäre mit dem Ende des Kalten Krieges das "Ende der Geschichte" erreicht. Der 24. Februar, der Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine, könnte nun eine neue Zeitrechnung eröffnen. Krieg ist wieder ein Mittel der Machtpolitik - mitten in Europa. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz sprach in seiner Regierungserklärung von einer "Zeitenwende" und kündigte eine Stärkung der Bundeswehr und hohe Investitionen in Aufrüstung an. Ulrich Kühn hat mit dem renommierten Osteuropa-Historiker Philipp Ther gesprochen.
Am 25.September 2001 hat Wladimir Putin im Bundestag gesprochen - also kurz nach Nine Eleven. Er hat damals Gemeinsamkeiten betont, die Bedeutung des Dialogs, die Kraft der deutschen Kultur und ihrer Geschichte. Er hat die "totalitäre stalinistische Ideologie" kritisiert und weiter gesagt: "Was die europäische Integration betrifft, unterstützen wir nicht einfach nur diese Prozesse, sondern sehen sie mit Hoffnung". Heute will er offenbar zurück zu einer Ordnung, die vor 2001 Bestand hatte. Wie ist das zu erklären?
Philipp Ther: Das ist ein Wandel in der Politik von Putin, der eben immer autokratischer wurde. Also am Anfang war durchaus eine gewisse Offenheit da, aber eigentlich kam die Wende schon 2007 mit dieser fast schon berüchtigten Brandrede auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Und dann eben der Einmarsch 2014, also zum einen auf der Krim, aber zum anderen auch die verdeckte Intervention in der Ostukraine. Insofern hat der Krieg ja nicht erst vergangene Woche angefangen, sondern der ist schon länger im Gang.
Putin hat verkündet, es gehe um die "Entnazifizierung" der Ukraine. Das wirkt zunächst nur befremdlich und grotesk, an den Haaren herbeigezogen. Vielleicht ermöglicht es aber einen Blick in seine Gedankenwelt und auch in seine Absichten. Was also kann man sich darunter vorstellen, wenn eine "Entnazifizierung" stattfinden soll?
Philipp Ther: Russland hat 2013/2014 bei der ukrainischen Revolution, der "Revolution der Würde", ein Narrativ gepflanzt und zwar, dass dort eigentlich ja diese Ukrainer, die sich auflehnen gegen die Herrschaft von Janukowitsch und gegen den russischen Einfluss, dass es sich dabei eigentlich um Faschisten handelt, beziehungsweise um Nazis. Damals übrigens mit für mich eigentlich erstaunlichem, bestürzendem Erfolg. Seitdem ist das Narrativ da: Diese demokratischen Ukrainer, das sind im Grunde genommen Nazis. Putin schließt auch damit an das alte Narrativ des Antifaschismus an, mit dem ja auch die Sowjetherrschaft über den Ostblock legitimiert wurde, also der antifaschistische Kampf. Auch das ist ein einziger Missbrauch. Und vielleicht ist es tatsächlich so, dass das bei der älteren russischen Bevölkerung in der Russsischen Föderation etwas aufweckt oder sie vielleicht mobilisiert; dass er denkt, da kann er jetzt die Reihen hinter sich schließen, wenn er praktisch noch mal auf diesen Antifaschismus rekuriert und eben die Ukrainer als Nazis beschimpft.
Sie haben das Jahr 2014 erwähnt. Die Frage, die sich stellt, ist: Hat Wladimir Putin überhaupt ein zutreffendes Bild der Ukraine im Jahr 2022? Die Soziologin Susann Worschech meint: Nein, das hat er in keiner Weise. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit der Zivilgesellschaft in der Ukraine. Ich würde Sie gern fragen, Herr Ther, denn Sie haben diese Erfahrungen auch: Wie hat sich seit 2014 die Zivilgesellschaft in der Ukraine entwickelt? Wie stabil ist die Demokratie, ist der demokratische Gedanke im Land verankert?
Philipp Ther: Selbstverständlich ist der verankert. Also die Zivilgesellschaft ist relativ stark. Das kann man in verschiedenen Bereichen beobachten, von karitativen Vereinen über Sozialfürsorge bis hin zu Geschichtsvereinen - also alles Mögliche. Das ist dort ziemlich lebendig. Im Übrigen aus sehr guten Gründen, zum Teil auch aus weniger guten, weil eben der Staat weniger stark ist, also viel weniger stark als in der Bundesrepublik oder in anderen EU-Staaten. Das heißt, zum Teil muss die Gesellschaft Aufgaben übernehmen, die der Staat dort nicht übernehmen kann. Diese Zivilgesellschaft ist relativ stark und organisiert nun zum Teil auch diesen Widerstand gegen den russischen Überfall, bis hin zum militärischen Widerstand.
Das andere ist die Demokratie: Es gab seit 2014 mehrere Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, und das ist alles korrekt abgelaufen. Es gab einen Parteienwettbewerb, es gab einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Kandidatinnen und Kandidaten und dann einen demokratisch legitimierten Wechsel, wo auch die, die verloren haben, anerkannten, dass jetzt eben andere die Macht übernehmen. Also insofern ist die Ukraine eine funktionierende Demokratie. Sicherlich mit manchen strukturellen Schwächen, Korruption ist nach wie vor ein Problem. Aber auch dort gibt es Fortschritte. Und auch daher hat die Ukraine alle Unterstützung aus dem westlichen Europa verdient.
Wenn das alles so ist: Was wird geschehen, wenn es Putin gelingt, Selenskyjs Regierung abzusetzen und eine Marionettenregierung zu installieren? Es wird ja darüber spekuliert, dass das seine primäre Absicht sei. Darf er dann überhaupt darauf hoffen, dass er das Land in einer solchen Konstellation befrieden könnte?
Philipp Ther: Nein, das kann in keiner stabilen Ordnung enden. Wir alle wissen nicht, wie lange dieser Krieg dauern wird. Aber selbst, wenn man jetzt sagen würde, es gelingt, Putin kann seine Ziele durchsetzen - "Entnazifizierung" ist ja nur eine Chiffre für die Absetzung der demokratisch gewählten Regierung und des demokratisch gewählten Präsidenten -, also selbst, wenn er das machen würde mit Schauprozessen, Gefängnis, Straflagern, wie er das ja auch in Russland macht, die Ukraine ist dafür zu lange unabhängig und eben zu lange demokratisch, unabhängig seit 1991, demokratisch nun auch schon lange genug.
Deshalb kann man das nicht alles wieder unterdrücken, also dort nun ein Regime zu errichten wie beispielsweise in Belarus, das würde so nicht gehen. Und dann müsste man sich darauf einstellen, dass es zu einer dauerhaften Instabilität kommt. Es kann natürlich sein, dass er nicht anstrebt, das gesamte Land zu besetzen, sondern nur das, was er sich 2014 bereits unter den Nagel reißen wollte, also im Grunde den Osten und den Süden. - Selbst, wenn er sich jetzt militärisch durchsetzt, kann er doch auf die Dauer die Ukraine nicht besetzen und dann unter Kontrolle halten. Das ist aber zugleich sehr beunruhigend, weil das heißt, wenn man einen Krieg beginnt und sich eigentlich unrealistische Ziele setzt, wie kommt man dann aus diesen Krieg wieder raus? Das ist wirklich alles sehr schwierig und von daher noch gar nicht abschätzbar, wo das hinführt.
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