60 Jahre Mauerbau: "Eine Bankrotterklärung von Gesellschaftspolitik"
Am 60. Jahrestag des Mauerbaus wurde bekannt, dass Kurt Biedenkopf verstorben ist. Ein Anlass über das deutsch-deutsche Verhältnis zu sprechen. Historiker Frank Wolff analysiert die Mauergesellschaft.
Die Mauer sei "Zeugnis eines hoffnungslosen Scheiterns gewesen", sagte Bundespräsident Frank Walter Steinmeier heute beim offiziellen Gedenken. Wenn sie es ähnlich knackig auf den Punkt bringen müssten: Was ist oder war die Mauer?
Frank Wolff: Die Mauer war aus meiner Sicht in erster Linie ein riesiges Problem für beide deutsche Länder, weil sie sich mitten durch eine Gesellschaft zog, die noch sehr eng verflochten war und die diese dann mit Gewalt trennte. Das hat sie dann zum Teil, da würde ich Steinmeier punktuell sogar widersprechen, nämlich einige Jahre sehr erfolgreich getan. Am Ende aber war sie ein nicht aufrechtzuerhaltenes System der Migrationsverhinderung.
Sie schreiben in Ihrem Buch "Die Mauer zwang zugleich auseinander und zusammen". Also war nicht nur die DDR, sondern auch die BRD eine Mauergesellschaft. Inwiefern definierte die Mauer West- und Ostdeutschland?
Wolff: Zum einen definierte die Mauer die DDR und die DDR-Gesellschaft dadurch, dass sie die Auswanderung aus dem Land verhindern sollte und dass sie in Verbindung mit ganz vielen Regeln und Gesetzen auch schaffte. Damit ermöglichte die Mauer ein System der Repression, das ohne sie gar nicht möglich gewesen wäre. Auf der Westseite allerdings lebte auch die Bundesrepublik mit dieser Teilung und musste mit ihr die ganze Zeit umgehen. Der Westen war also in einer Lage, sich einerseits nach Westen zu orientieren, andererseits aber überhaupt nicht existieren zu können, ohne immer auch den Blick nach Osten zu haben. Das konnte man auch in der Gesellschaft der Bundesrepublik, auch wenn das gerne vergessen wird, an ganz vielen Punkten spüren. Der Mauerbau hatte zum Beispiel die Wehrpflichtverlängerung als Folge. Oder nehmen wir die Spionageaffäre um Willy Brandt und viele andere Elemente, die tatsächlich aus dieser Teilung und von dieser Mauer bedingt die Gesellschaft und Politik der Bundesrepublik wieder und wieder veränderten.
Sie sind ja nicht nur Historiker, sondern auch Migrationsforscher. Eine Mauer als Grenze gegen Migration ist ja eine Idee, die mit dem Fall der Mauer nicht verschwunden ist. Inwiefern sehen Sie die Berliner Mauer als einen Prototypen?
Wolff: Im 20. Jahrhundert verloren Grenzen ihre militärische Bedeutung. Die neuen Formen des Krieges, die neuen Formen der Auseinandersetzung und auch der Diplomatie sorgten dafür, dass die direkte militärische Bewaffnung von Grenzen nicht mehr die Sicherheit von Staaten garantierte. Nichtsdestotrotz wurden Grenzen im Laufe des 20. Jahrhunderts immer stärker ausgebaut und militarisiert. Und das geschah zur Migrationverhinderung. Da ist die Mauer, ein früherer Höhepunkt, ein wirklich auch zugespitztes System, was ausdrückt, wie weit Staaten gehen können, um ungewollte Wanderung zu verhindern. Damit soll ein soziales Problem gelöst werden, mit militärischen Mitteln an der Grenze, was eben in der Gesellschaft als nicht lösbar erachtet wird. Das ist letztlich eine Bankrotterklärung von Gesellschaftspolitik. In dieser Art und Weise steht die Mauer für eine Entwicklung, die wir auch heute sehen. Und zwar in einer Welt, in der viel mehr Mauern existieren und auch gebaut werden als zur Zeit des Kalten Krieges. Und ein großer Teil dieser Mauern hat genau den gleichen Effekt, nämlich die Ausreise zu verhindern.
Als Migrationsforscher beschäftigen Sie sich auch mit Mobilitätsbewegungen zwischen Ost- und Westdeutschland. Kurt Biedenkopf ist ein gutes Beispiel für diese Mobilitätsbewegung. Was wird an ihm deutlich?
Wolff: An Kurt Biedenkopf kann man eine Art biografisches Modell sehen, wie die Vereinigung funktioniert hat. Nämlich ganz stark beruhend auf Mobilität. Die Großteil der Mobilität nach dem Mauerfall ging natürlich nach Westen und lies ganze Landstriche veröden. Die Auswanderung von Arbeitnehmern in alle Richtungen des Westens schädigte die ostdeutsche Wirtschaft ganz massiv. Aber die geschah nicht nur nach Westen, sondern auch in die Zentren des Ostens, zum Beispiel nach Leipzig oder Dresden. Kurt Biedenkopf gehört zu denen, die als führende Figuren in den Osten gingen. Er steht für eine Art und Weise des Zusammenwachsens, die den Wissens- und auch politischen Transfer ermöglichte, die andererseits natürlich auch in den Ländern sehr kritisch gesehen wurde.
Er hat mal gesagt: "Ich bin damals freiwillig nach Sachsen gekommen, um zu helfen, nicht um zu regieren". Es gibt ja auch nicht wenige Ostdeutsche, die das Gefühl haben, vom Westen eingenommen worden zu sein. Trotzdem, Kurt Biedenkopf wird jetzt rückblickend auch gerne als "König Kurt", "König von Sachsen" oder "Der große Sachse" betitelt. Wie beurteilen Sie seine Rolle?
Wolff: Der Historiker ist natürlich kein Richter, auch nicht über Biografien. Aber bei Kurt Biedenkopf würde ich die Ambivalenz dieser Person als sehr wichtig erachten, auch wenn heute natürlich die Gedenkreden dominieren. Wir stehen vor einem sehr komplexen Erbe. Einerseits steht Biedenkopf für die Wanderung, auch sicherlich einen gewissen Paternalismus. Sie sagten es eben in dem Zitat: um zu helfen. Das war ganz zentral für den Einigungsprozess. Er ging immer davon aus, dass die Bundesrepublik eine Art ökonomischer sozialer Normwert ist und die Bevölkerung, die Kultur und die Strukturen des Ostens sich anpassen und etwas aufholen müssten. Das ist natürlich vorne und hinten nicht aufgegangen, weil so eine Vereinigung in der Art nicht funktionieren kann. Andererseits steht Biedenkopf natürlich auch für eine sehr erfolgreiche Wirtschaftspolitik in Sachsen. Sicherlich auch mit einigen Punkten, an denen er sich verhoben hat oder in Affären hineingerutscht ist. Auf der anderen Seite aber ist er aus kulturpolitischer Sicht auch kritisch zu sehen. Denn seine Ignoranz gegenüber dem Rechtsradikalismus in Sachsen - er attestierte den Sachsen allgemein eine Immunität gegen Rechtsradikalismus - hatte natürlich Wirkung. Seine Regierungsjahre werden von den Journalisten aufgrund der vielen Übergriffe als die "Baseballschlägerjahre" beschrieben.
Und was war das Positive an Biedenkopfs Wirken in Sachsen?
Wolff: Ich denke, er hat es tatsächlich geschafft, als westlicher Vertreter bundesdeutscher Politik in Sachsen vollkommen angenommen zu werden. Er war eine Person, die in Sachsen akzeptiert wurde. Das ist eine große Leistung, die für viel mehr steht als nur eine gute Politik. Er musste auch einen Ton und ein Stil getroffen haben, der mit dem Land funktioniert.
Das Gespräch führte Alexandra Friedrich.
