Auf einem Pappschild auf dem Bürgersteig steht "Für Essen 0.50 Cent". © picture alliance

Hilfe der Nachbarschaft

Stand: 11.02.2023 07:30 Uhr

Fast 19.000 Menschen in Hamburg sind wohnungslos. Eine erstmals erhobene bundesweite Statistik dazu wurde im vergangenen Jahr veröffentlicht. Damit hat Hamburg die höchste Wohnungslosenquote unter den Großstädten.

von Pastor Sieghard Wilm

Es ist kalt am Morgen. Auf dem Fahrrad drehe ich meine Runde über den Kiez. An einer Ecke sehe ich einen Haufen Decken, darüber eine Plastikplane. Merkwürdig. Gestern war der noch nicht da. Der Haufen bewegt sich. Hier lebt ein Mensch.

An der Reeperbahn gibt es ja viele Obdachlose. Wo nachts mehr Menschen unterwegs sind als am Tage, da lässt sich immer etwas erbetteln. Oft sind sie in Gruppen zusammen, grüßen die Kiezbummler schon wie alte Bekannte. Doch dieses Nachtlager ist abseits vom Trubel aufgeschlagen.

Einige Tage später sehe ich ihn das erste Mal, wie er die Nase aus dem Deckenhaufen steckt, eine Zigarette raucht. Es ist eine kurze Begegnung, wir nicken uns zu. Warum geht der bei diesen Minusgraden nicht ins Pik Ass? Die Sammelunterkunft für Obdachlose? Oder in eine andere Unterkunft des Winternotprogramms? Bei meinem nächsten Besuch frage ich ihn einfach. Unser neuer Nachbar heißt Robert. Er freut sich über meinen Besuch, auch wenn wir uns schwer verständigen können. Aber aus den wenigen Brocken Deutsch verstehe ich doch: Er hat Angst vor dem Massenlager, ist dort offenbar ausgeraubt worden. Und dann sagt er immer wieder "Ich - zero Alkohol."

Mitmenschlichkeit nicht an Institutionen abgeben

Als ich das nächste Mal vorbeikomme, sehe ich, wie eine Nachbarin dem bärtigen Mann einen Kaffee vorbeibringt, mit ihm spricht. Dann, ein paar Tage später, sind die Decken kein Haufen mehr, sondern Kante auf Kante übereinandergelegt, darüber die Plastikplane. Doch an die Wand ist ein Schild geklebt, auf dem in Handschrift steht: "Robert ist für ein paar Tage untergekommen. Aber er wird weiterhin auf die Hilfe der Nachbarschaft angewiesen sein."

Mir geht lange durch den Kopf: Wer hat das wohl geschrieben? Was für tolle Menschen leben doch hier, die offensichtlich begriffen haben: Wir bleiben als Nachbarinnen und Nachbarn zuständig für die Menschen in unserem Umfeld. Unsere Mitmenschlichkeit können wir nicht einfach an Institutionen abgeben.

Wie es weitergeht mit Robert? Ich weiß es nicht. Robert ist ein Schicksal von vielen auf unseren Straßen. Wie es weitergeht mit der Mitmenschlichkeit in unserer Stadt - das entscheiden wir jeden Tag selber.

Dieses Thema im Programm:

NDR 90,3 | 10.02.2023 | 09:45 Uhr

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