Stand: 19.09.2014 10:10 Uhr

Familienunternehmen Stasi-Zelle: "Residentur Mitte"

von Angelika Henkel und Stefan Schölermann

Ein Einfamilienhaus in in einem kleinen Ort: Die Nachbarn hören nicht, was hinter den Mauern gesprochen wird. Hinter den zugezogenen Gardinen sind die Bewohner vor neugierigen Blicken geschützt. Im Inneren kann sich die Familie vertraulich und in aller Seelenruhe austauschen - denn alle ziehen an einem Strang. Ideale Bedingungen für einen Spion der Stasi? Jedenfalls Bedingungen, unter denen ausgerechnet im kleinen Garbsen bei Hannover Ende der 60er-Jahre eine Spionage-Zelle heranwachsen kann, die in den Stasi-Unterlagen respektvoll als "Residentur Mitte" bezeichnet wird und bis 1990 aktiv bleiben wird. Von hier gehen geheimste Papiere und Unterlagen auf die Reise hinter den Eisernen Vorhang, werden Funkfrequenzen und Verschlüsselungscodes westlicher Streitkräfte und Sicherheitsbehörden verraten.

Liste mit Standorten westlicher Atomraketen an die Stasi

Der größte Coup sind die sogenannten Poseidon-Papiere: Dokumente, die mit "streng geheim" gestempelt sind und die Auskunft geben über die Standorte der westlichen Atomraketen in Niedersachsen und Bremen. In Zeiten des Kalten Krieges ist ein solcher Verrat der GAU, der "größte anzunehmende Unfall" für das westliche Verteidigungsbündnis. Denn das "Gleichgewicht des Schreckens" kann nur in Balance bleiben, wenn die Abschreckung glaubwürdig ist. Der Verrat hat dieses Gleichgewicht unterlaufen. Nicht ohne Grund stellt das Oberlandesgericht (OLG) Celle 1995 (Az 3 StE /93) über die Taten der "Residentur Mitte" fest : "Durch die Lieferung dieser Liste war das MfS erstmals in den Besitz eines genauen Zielkataloges gelangt, der es den Streitkräften des Warschauer Paktes im Zuge einer militärischen Auseinandersetzung ermöglicht hätte, konzentrierte Angriffe auf diese Ziele durchzuführen und sie wirkungsvoll zu bekämpfen." Einige Zeilen später heißt es im Urteil: "Sowohl der Verrat der Poseidon-Stellungen als auch die Gesamtheit der preisgegebenen Informationen  haben die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik herbeigeführt."

1964 selbst als Spitzel angeboten

So bedeutungsschwer die Worte des Gerichts im Jahre 1995, so klein und scheinbar unbedeutend sind die Anfänge dieser "Residentur Mitte". Die "Keimzelle" ist Günter G. Ein Garbsener, der Zeit seines Lebens davon träumt, bei der Bundeswehr Karriere zu machen, doch statt dessen als kaufmännischer Angestellter, Inhaber einer Reinigungsfirma und einer Gaststätte ein ums andere Mal Schiffbruch erleidet. Die Kasernen der Bundeswehr aber bleiben für ihn verschlossen. 1964 fällt Günter G. eine verhängnisvolle Entscheidung: Er meldet sich aus eigenem Antrieb bei einer Grenzübergangsstelle der DDR und bietet sich als Spitzel an. Immerhin hat er viele Freunde bei der Bundeswehr und glaubt, manch Interessantes liefern zu können. Ein Angebot, das man im Osten nicht ablehnen kann - trotz anfänglicher Bedenken.

Ehefrau, Tochter, Freundin - nach und nach machen alle mit

Die Grafik zeigt eine Aufstellung der "Residentur Mitte", einer Garbsener Spionfamilie der Stasi.
Die Beteiligten der "Residentur Mitte".

Beim Erstkontakt gilt Günter G. den Stasi-Leuten nämlich noch als "überengagiert". Ein Misstrauen, das der Garbsener in den Folgejahren entkräften kann. Denn er gewinnt  Mitwisser. Zunächst seine Ehefrau Gisela, sie wird bei der Stasi unter dem Decknamen "Marga" geführt. Sie soll in den Folgejahren die geheimen Dokumente in den Osten transportieren. Dann überzeugt er nach und nach seine Schwägerin Dagmar S., Stasideckname "Vera", die eigene Tochter Sabine, Deckname "Sybille", und eine Freundin des Hauses, Ute B., von der gemeinsamen konspirativen Sache. Bis 1980 haben alle vier Frauen Verpflichtungserklärungen bei der Stasi unterschrieben. Eine Stasi-Zelle - quasi als Familienunternehmen.

Schwägerin wird fürs MfS zum "Hauptgewinn"

Vor allem Schwägerin Dagmar S. alias "Vera" soll sich für die Stasi dabei als eine Art "Hauptgewinn" entpuppen. Sie ist beim Militärischen Abschirmdienst (MAD) der Bundeswehr zunächst als Schreibkraft beschäftigt, hat Zugang zu wichtigen Dokumenten wie unter anderem dem "Poseidon-Papier". Und weil es beim MAD zu dieser Zeit noch keine Taschenkontrolle gibt, kann sie die geheimen Unterlagen nach Dienstschluss in aller Seelenruhe nach Garbsen transportieren. Dort werden sie versandfertig gemacht für den Transport gen Osten. An technischer Ausrüstung mangelt es der "Residentur Mitte" nicht:  Dort verfügt man mittlerweile über eine Spiegelreflex-Kameraausrüstung aus Westproduktion für die Kopierarbeit, eine präparierte Handtasche für den Dokumententransfer sowie manipulierte Spraydosen und Taschentuchpackungen für den Transfer von Filmmaterial. Günter G.s Ehefrau ist von Stasi-Mitarbeitern außerdem in moderner Funktechnik ausgebildet worden. So kann sie verschlüsselte Botschaften und Aufträge aus der Stasi-Zentrale in Ost-Berlin entgegennehmen.

Gut ausgebildet und Zugang zu Interna

Auch Tochter Sabine und Ute B. sollen sich für die Stasi als brachbare Quellen erweisen. Die Tochter arbeitet beim Truppendienstgericht der Bundeswehr und kann so Details über Bundeswehrinterna weiterleiten. Ute B. dient beim Niedersächsischen Verfassungsschutz (LfV) zunächst als Schreibkraft und später in der Registratur und in der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit. Sie liefert unter anderem eine komplette Namensliste der LfV-Mitarbeiter, deren Funktionsbeschreibung und entsprechende Fotos der "Geheimen" - ein gefundenes Fressen für die Stasi, die wissen will, mit wem sie es auf der westlichen "Gegnerseite" zu tun hat.

Gisela macht weiter - nach Günters Tod und dem Mauerfall

Deckblatt eines Urteils des Oberlandesgerichts Celle. © NDR
Nach dem Tod ihres Ehemannes beliefert IM "Marga" die Stasi weiter. Später wird sie zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt.

Zwar stirbt "Zellengründer" Günter G. 1989, Ehefrau Gisela aber hält auch danach treu zur "roten Fahne": Seit 1967 hat sie immer wieder eine Vielzahl von Dokumenten in die DDR transportiert. Mal fährt sie mit gefälschten Dokumenten über die Grenze, mal erfolgt die Übergabe im Eisenbahnzug zwischen Hannover und Braunschweig. Der Fall der Mauer aber kann sie nicht stoppen: Im August 1990 trifft sie sich zum letzten Mal mit einem Verbindungsmann der Stasi zur Dokumentenübergabe. Der Lohn der Verratstätigkeit: rund 120.000 DM in bar und ein Konto bei der DDR-Bank, auf dem etwa 160.000 Mark der DDR gutgeschrieben sind. Nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes können die allerdings nicht mehr ausgezahlt werden.

West-Behörden ahnen jahrzehntelang nichts

Das kleine Einfamilienhaus in Garbsen bleibt all die Jahre unbehelligt. Die Behörden im Westen ahnen nichts von dem, was sich hinter den Mauern abspielt. Erst lange nach der Wende fliegt die "Residentur Mitte" auf. Das Gerichtsverfahren endet für Günter G.'s Ehefrau und  Dagmar S. mit langjähriger Haft. Tochter Sabine und Ute B. kommen mit Freiheitsstrafen davon, die zur Bewährung ausgesetzt werden.

 

Dieses Thema im Programm:

NDR Info | 19.09.2014 | 10:10 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Zeitgeschichte

Mehr Geschichte

Der Triebwagenzug "Fliegender Hamburger" am Hauptbahnhof Hamburg in den 1930er-Jahren © imago/Arkivi

Fliegender Hamburger: 1933 ging's in Rekordzeit nach Berlin

Der Schnelltriebwagen der Deutschen Reichsbahn benötigte damals nur 138 Minuten in die Hauptstadt. Der Rekord wurde erst 1997 geknackt. mehr

Norddeutsche Geschichte