Nadjeshda Belorussowa mit ihrer Tochter Olga (rechts) und Dolmetscherin Lena Gorbunowa.
Als die Sowjets näherrücken, muss die Familie nach Polen - zu Fuß. "An die Zeit habe ich kaum Erinnerungen, weil ich so geschwächt war." Von Polen aus geht die Odyssee weiter in den bayrischen Ort Föss. Dort bleiben sie bis Kriegsende in einem weiteren Lager. Belorussowa arbeitet mit sechs Jahren beim Schälkommando in der Küche. "Das Leckerste waren für mich rohe Kartoffeln." Ihr jüngster Bruder kommt dort im April 1945 zur Welt. "Er war es auch, der später gefragt hat, wie das alles damals war. Bis zu dem Zeitpunkt haben wir in der Familie über alles, was geschehen war, nicht gesprochen."
Nach dem Krieg muss der Vater als Verräter nach Sibirien
Auch nach der Befreiung ist das Leid nicht vorbei. Eltern und Kinder kommen in ein sogenanntes Filtrationslager in Tschechien. Dort soll festgestellt werden, ob sie während ihrer Zeit in Deutschland mit den Nazis kooperiert haben. Der Vater wird als belastet angesehen - "dazu genügte damals ein Gerücht", erklärt Dolmetscherin Gorbunowa. Er muss nach Sibirien und verbringt weitere neun Jahre in den Gulag genannten Arbeitslagern.
Rückkehr nach Hamburg
Sieben Jahre alt ist Nadjeshda, als sie nach Russland zurückkehrt. Im ersten Jahr fällt sie ständig in Ohnmacht und kann daher erst später mit der Schule beginnen als vorgesehen. Dann geht sie ihren Weg, macht die Fachhochschule, studiert BWL, heiratet, bekommt zwei Töchter. Eine von ihnen, Olga, sitzt heute neben ihr in der Hotel-Lounge.
Wie ist es für sie, in Hamburg zu sein? Haben sie negative Gefühle? "Nein", sagen beide. "Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Kriege - und dazu gehört Gewalt", meint Nadjeshda Belorussowa. Die schmerzvollen Erinnerungen ihrer Kindheit hätten sie zwar geprägt, doch sei sie froh, heute wieder in der Hansestadt zu sein. "Damals kannte ich Hamburg nur durch das kleine Fenster im Lager - heute sehe ich, wie groß und vielfältig die Stadt ist."
Hunderte ehemalige Zwangsarbeiter eingeladen
Was manchen angesichts des erfahrenen Leids erstaunt, ist laut Katja Hertz-Eichenrode, die die Ausstellung kuratiert, eine typische Reaktion ehemaliger Zwangsarbeiter. Hunderte haben sie und ihre Mitarbeiter im Rahmen des sogenannten Besuchsprogramms angeschrieben. "Und die meisten sind gern gekommen." Nicht nur, um den Ort zu sehen und die eigene Geschichte aufzuarbeiten, sondern auch, um über den Krieg zu erzählen. So wie Nadjeshda Belorussowa, die dieser Tage in einer Schulklasse davon berichten wird, wie sie als Vierjährige nach Hamburg kam.
Das erzählen andere Zeitzeugen
"Und dann gingen wir zur Arbeit. Zuerst sind wir mit dem Schiff, einer Barkasse gefahren zu einem ausgebombten Betrieb. Am ersten Tag haben wir Fässer voll von Teer, die durch die Bomben irgendwie auseinandergerollt waren, gerollt und sie an einem Ort gestapelt. Das war eine ziemlich schwere Arbeit. Wir waren das nicht gewöhnt, wir haben nie solche Arbeit gemacht. Und dann haben wir Eisenstücke aus den Trümmern holen müssen und Maschinen irgendwohin tragen. Ein anderes Mal haben wir aus den Trümmern die Steine geholt und abgeklopft. Einmal mussten wir von einem Schiff Ziegelsteine abladen. Und hier haben wir wirklich so lange arbeiten müssen, bis das Schiff leer war. Da wir ohne Handschuhe arbeiteten, hatte ich später ganz wunde Finger von den Ziegeln." (Dagmar Lieblová, ehemalige Gefangene des Außenlagers Dessauer Ufer aus der Tschechischen Republik. Quelle: Herbert Diercks: Der Hamburger Hafen im Nationalsozialsmus)
"Aufstehen mussten wir etwa um vier Uhr früh. Da wurden wir zum Schiff gebracht, das uns dann zu den Raffinerien brachte. Die ersten Arbeitsstätten waren die großen Raffinerien an der Süderelbe. Ich war zunächst bei Ebano. Dort waren bei einem Fliegerangriff die Tanks mit Teer getroffen worden, und der Teer war ausgeflossen. Unsere Arbeit war es, den Teer in Eisenfässer zu schaufeln. Später kam ich zu Rhenania. Die Raffinerien wurden ja bei Luftangriffen beschädigt, und wir haben Aufräumungsarbeiten gemacht." (Margit Herrmannová, Überlebende des Außenlagers Dessauer Ufer aus der Tschechischen Republik. Quelle: Herbert Diercks: Der Hamburger Hafen im Nationalsozialsmus)
"Mein Mann arbeitete auf der Deutschen Werft und ich brachte meine Tochter zur Welt. Es gab aber keine Möglichkeit, sie zu waschen. Er bat seinen Meister um ein Stück Blech, um eine Wanne daraus zu basteln. Wegen dieses Stücks Blech wurde er von der Polizei festgenommen. Ein Ingenieur der Deutschen Werft gab mir einen Passagierschein, um das Lager verlassen zu können, und am 20. März 1945 traf ich meinen Mann in Wilhelmsburg. Ich habe mich mit ihm unterhalten. Die Polizisten waren schockiert, als sie mich mit so einem kleinen Baby sahen und gaben die Erlaubnis für das Treffen." (Tatjana Doduch aus der Ukraine. Am 22. März starb ihr Mann bei einem Bombenangriff auf das "Arbeitserziehungslager" Wilhelmsburg. Quelle: Herbert Diercks: Der Hamburger Hafen im Nationalsozialsmus)
"Oft mußten wir zu lange Appell stehen. Dann blieb keine Zeit zum Waschen. In den letzten Wochen waren außerdem alle Wasserleitungen zerbombt. Wasser mußte von uns mühsam von weither herangetragen werden für die SS und zum Kochen. Für uns selbst blieb kaum etwas übrig. Wie schliefen meistens in den Kleidern und zogen auch Schuhe und Strümpfe selten aus. Erstens trockneten die Sachen am Leibe besser, wenn wir im Schneetreiben oder Regen gearbeitet hatten, und außerdem war man schneller fertig, wenn man morgens um vier Urh oder strafweise umd drei oder zwei Uhr herausgepfiffen wurde." (Gertrud Rast aus Hamburg über ihre Zeit im Arbeitserziehungslager Wilhelmsburg. Quelle: Herbert Diercks: Der Hamburger Hafen im Nationalsozialsmus)
"Ich war täglich mehrmals im KZ-Lager und habe dort mit eigenen Augen gesehen, wie die Häftlinge geschlagen und getreten worden sind von der SS und den Kapo-Männern. Habe einmal mit einem Wachposten gesprochen, der sagte mir, daß täglich ungefähr 10 starben. Das Essen war furchtbar. Es war nur Wassersuppe, mit etwas Kohl oder Rüben. Das Wasser hat im Sommer oft drei Tage gestanden und war somit ungenießbar. Habe einem Gefangenen mein Brot gegeben und wurde dabei überrascht von der Bewachung, da wurde mir gesagt, ob ich da auch rein will. Das Quartier der Häftlinge habe ich gesehen, sie haben auf dem Fußboden mit einer Decke geschlafen ohne Strohsack." (Bruno Grimm, von 1938 bis 1945 Schweißer bei Blohm + Voss. Quelle: Herbert Diercks: Der Hamburger Hafen im Nationalsozialsmus)
"Das Lager Veddel war groß, dort waren 800 Menschen. Es bestand aus vier Gebäuden, der Fußboden war aus Beton, die Decken waren gewölbt. In jedem Gebäude waren 200 Menschen. Drin waren Pritschen. Es gab keine Toilette, wenn man 'musste', ging man zu einem großen Behälter, und am nächsten Tag musste man es selbst wegbringen. Auf dem Fußgängerweg wurden wir von einem Wachmann mit einem roten Band am Arm geführt. Das ganze Jahr haben wir das Zeichen 'Ost' auf der Brust getragen. Die deutsche Regierung hat gedacht, dass wir aus Russland sind, dann hat man erfahren, dass wir aus Lettland sind. Draufhin hat man uns das Zeichen 'Ost' abgemacht und wir durften allein zur Arbeit gehen." (Fjodor Schorochow aus Lettland. Quelle: Herbert Diercks: Der Hamburger Hafen im Nationalsozialsmus)
"Zuerst wurde ich in meinem Lager angemeldet. Dort habe ich auch meinen Buchstaben 'P' bekommen. Ich habe beim Bunkerbau gearbeitet und auch im Hafen bei der Deutschen Werft. Meistens acht Stunden, wenn es nötig war, auch 12 oder 14. In unserem Betrieb haben auch Holländer und Belgier gearbeitet. Die Unterschiede waren wirklich sehr groß. Die Arbeiter aus dem Westen wurden besser bezahlt, haben viel leichtere Arbeit verrichtet, mussten keine Nationalitäten-Abzeichen tragen, hatten viel bessere Verpflegung. Sie konnten sich frei bewegen, sie hatten Urlaub und durften ihre Familien besuchen." (Stanislaw Glowi´nski aus Polen. Quelle: Herbert Diercks: Der Hamburger Hafen im Nationalsozialsmus)
"Wir wurden im Lager Sandtorkai untergebracht. [...] In diesem Lager arbeitete ich sechs Monate, bis ich durch die Gestapo verhaftet wurde. Der Grund für die Verhaftung war, dass wir beim Beladen des Überseeschiffs 'Adolf Binder' mit Lebensmitteln viele davon beschädigt hatten. In Säcke mit Zucker, Mehl, Hafer und anderen Lebensmitteln kippten wir Fässer mit Fischfett. Das Schiff sollte nämlich nach Riga fahren und seine Fracht war für die deutsche Armee bestimmt, die Leningrad im Ring der Blockade hielt. Deshalb beschlossen wir, unseren Brüdern zu helfen, die Stadt zu verteidigen. Deswegen wurden wir von der Gestapo verhaftet und zunächst in das Hamburger Gefängnis Fuhlsbüttel und später ins KZ Neuengamme eingeliefert." (Pawel Pawlenko aus der Ukraine. Quelle: Herbert Diercks: Der Hamburger Hafen im Nationalsozialsmus)
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NDR//Aktuell |
21.08.2014 | 14:00 Uhr
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