Stand: 21.08.2014 13:18 Uhr

"Ich war vier und meine Eltern Zwangsarbeiter"

Nadjeshda Belorussowa © NDR.de Foto: Kristina Festring-Hashem Zadeh
Nadjeshda Belorussowa mit ihrer Tochter Olga (rechts) und Dolmetscherin Lena Gorbunowa.

Als die Sowjets näherrücken, muss die Familie nach Polen - zu Fuß. "An die Zeit habe ich kaum Erinnerungen, weil ich so geschwächt war." Von Polen aus geht die Odyssee weiter in den bayrischen Ort Föss. Dort bleiben sie bis Kriegsende in einem weiteren Lager. Belorussowa arbeitet mit sechs Jahren beim Schälkommando in der Küche. "Das Leckerste waren für mich rohe Kartoffeln." Ihr jüngster Bruder kommt dort im April 1945 zur Welt. "Er war es auch, der später gefragt hat, wie das alles damals war. Bis zu dem Zeitpunkt haben wir in der Familie über alles, was geschehen war, nicht gesprochen."

Nach dem Krieg muss der Vater als Verräter nach Sibirien

Auch nach der Befreiung ist das Leid nicht vorbei. Eltern und Kinder kommen in ein sogenanntes Filtrationslager in Tschechien. Dort soll festgestellt werden, ob sie während ihrer Zeit in Deutschland mit den Nazis kooperiert haben. Der Vater wird als belastet angesehen - "dazu genügte damals ein Gerücht", erklärt Dolmetscherin Gorbunowa. Er muss nach Sibirien und verbringt weitere neun Jahre in den Gulag genannten Arbeitslagern.

Rückkehr nach Hamburg

Sieben Jahre alt ist Nadjeshda, als sie nach Russland zurückkehrt. Im ersten Jahr fällt sie ständig in Ohnmacht und kann daher erst später mit der Schule beginnen als vorgesehen. Dann geht sie ihren Weg, macht die Fachhochschule, studiert BWL, heiratet, bekommt zwei Töchter. Eine von ihnen, Olga, sitzt heute neben ihr in der Hotel-Lounge.

Wie ist es für sie, in Hamburg zu sein? Haben sie negative Gefühle? "Nein", sagen beide. "Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Kriege - und dazu gehört Gewalt", meint Nadjeshda Belorussowa. Die schmerzvollen Erinnerungen ihrer Kindheit hätten sie zwar geprägt, doch sei sie froh, heute wieder in der Hansestadt zu sein. "Damals kannte ich Hamburg nur durch das kleine Fenster im Lager - heute sehe ich, wie groß und vielfältig die Stadt ist."

Hunderte ehemalige Zwangsarbeiter eingeladen

Was manchen angesichts des erfahrenen Leids erstaunt, ist laut Katja Hertz-Eichenrode, die die Ausstellung kuratiert, eine typische Reaktion ehemaliger Zwangsarbeiter. Hunderte haben sie und ihre Mitarbeiter im Rahmen des sogenannten Besuchsprogramms angeschrieben. "Und die meisten sind gern gekommen." Nicht nur, um den Ort zu sehen und die eigene Geschichte aufzuarbeiten, sondern auch, um über den Krieg zu erzählen. So wie Nadjeshda Belorussowa, die dieser Tage in einer Schulklasse davon berichten wird, wie sie als Vierjährige nach Hamburg kam.

Das erzählen andere Zeitzeugen

"Wunde Finger von den Ziegeln"

"Und dann gingen wir zur Arbeit. Zuerst sind wir mit dem Schiff, einer Barkasse gefahren zu einem ausgebombten Betrieb. Am ersten Tag haben wir Fässer voll von Teer, die durch die Bomben irgendwie auseinandergerollt waren, gerollt und sie an einem Ort gestapelt. Das war eine ziemlich schwere Arbeit. Wir waren das nicht gewöhnt, wir haben nie solche Arbeit gemacht. Und dann haben wir Eisenstücke aus den Trümmern holen müssen und Maschinen irgendwohin tragen. Ein anderes Mal haben wir aus den Trümmern die Steine geholt und abgeklopft. Einmal mussten wir von einem Schiff Ziegelsteine abladen. Und hier haben wir wirklich so lange arbeiten müssen, bis das Schiff leer war. Da wir ohne Handschuhe arbeiteten, hatte ich später ganz wunde Finger von den Ziegeln." (Dagmar Lieblová, ehemalige Gefangene des Außenlagers Dessauer Ufer aus der Tschechischen Republik. Quelle: Herbert Diercks: Der Hamburger Hafen im Nationalsozialsmus)

 

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NDR//Aktuell | 21.08.2014 | 14:00 Uhr

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