Eine Frau hält lächelnd ein Bild in die Kamera. © NDR Foto: Sabine Alsleben

Wie die Kultur nach Rellingen kam

Stand: 08.05.2021 06:00 Uhr

Im Jahr 1975 begann die politische Karriere von Marianne Stock. Die heute 86-Jährige war damals die einzige Frau in der Kommunalpolitik. Mit viel Ehrgeiz sorgte sie dafür, dass Rellingen im Kreis Pinneberg zum Kulturstandort wurde.

von Sabine Alsleben

Langeweile kennt Marianne Stock nicht. Schon die Wände in ihrer Wohnung lassen erahnen, was die 86-Jährige alles erlebt hat. Der Flur ist voll mit Bildern von Auszeichnungen, Treffen mit Justus Franz - damals Intendant des Schleswig-Holstein Musikfestivals, Fotos von ihr und politischen Weggefährten. Im Wohnzimmer wird es dann persönlicher: Dort hängen und stehen Bilder, die ihr Vater, der früh im zweiten Weltkrieg gefallen ist, selbst gezeichnet hat. Dazu kommen viele Fotos von ihrem Enkelsohn Moritz. Er ist schwer behindert zur Welt gekommen. Marianne Stock pflegte ihn 20 Jahre lang bis zu seinem Tod kurz vor Weihnachten 2019. "Das hat mich jung gehalten. Ich hatte immer was zu tun", erzählt die zierliche Frau, die man gut als "rüstig" bezeichnen kann.

Eine historische Aufnahme der Hauptstraße in Rellingen von 1910. © Verein für Heimatkunde Rellingen und Umgebung von 1976 e.V. Die Hauptstraße in Rellingen. © NDR Foto: Sabine Alsleben

Die Hauptstraße von Rellingen hat sich seit 1910 sehr verändert. Einzig das weiße Haus auf der rechten Seite ist noch erhalten, wurde aber im Laufe der Zeit umgebaut. Am Ende der Straße sieht man heute wie damals die Kirche. Die großen Gebäude auf der linken Seite waren die Gebäude der Heil- und Pflegeanstalt in Rellingen, sie wurden 1923 abgerissen.

Erste Frau in der Kommunalpolitik

Im Jahr 1966 ist Marianne Stock in den Rellinger Ortsteil Egenbüttel gezogen. Damals war die Gemeinde noch eigenständig, wurde dann acht Jahre später eingemeindet. 1975 begann die politische Karriere von Marianne Stock in der CDU - als erste Frau in der Kommunalpolitik von Rellingen. "Ich wollte etwas für den Ort tun und nicht abends immer nur zu Hause sitzen. Und da hab ich mir gedacht, das kannst du ja mal probieren." Angefangen hat sie mit dem Protokollieren der Ausschusssitzungen. Inzwischen ist sie Gemeinderätin und Vorsitzende des Ausschusses für Senioren, Soziales und Kultur. Denn genau das sind die Themen, die ihr am Herzen und eigentlich sogar im Blut liegen.

Eine historische Aufnahme der Hauptstraße aus dem Jahr 1906. © Verein für Heimatkunde Rellingen und Umgebung von 1976 e.V. Die Hauptstraße in Rellingen. © NDR Foto: Sabine Alsleben

Das Eckhaus an der Kreuzung Hamburger Straße/Poststraße/Hauptstraße wurde 1902/1904 von dem Zimmermeister und Bauunternehmer Hinrich Stoldt für seine Tochter gebaut. Die Aufnahme stammt in etwa aus dem Jahr 1906. Zuerst war dort ein Laden für Elektrogeräte untergebracht, später Hutgeschäfte mit verschiedenen Eigentümern. Für dieses Gebäude gibt es seit einiger Zeit eine Abrissgenehmigung.

Kultur - "Wat soll dat denn?"

Ihr Vater war Maler, Geiger und Dirigent. Schon die junge Marianne Stock liebte es, in Hamburg, wo sie damals mit ihrer Familie lebte, ins Schauspielhaus oder Thalia Theater zu gehen: "Und wenn ich nur einen Stehplatz hatte, das war mir völlig egal. Das waren meine Highlights. Da kannte ich jeden Schauspieler." Außerdem besuchte sie auch in jungen Jahren schon Ausstellungen. Da wundert es nicht, dass sie diese Leidenschaft mit nach Rellingen brachte. Als sie im Ausschuss verkündete, eine Ausstellung ins Rathaus holen zu wollen, musste sie sich so manchen Spruch anhören: "Wat soll dat denn?" - soll es zum Beispiel geheißen haben. Auch Bürgermeister Marc Trampe (CDU) blickt fast bewundernd zurück: "Frau Stock ist wirklich eine Rellinger Institution. Sie hat sich damals durchgebissen und ihre Themen, die sicherlich bei den Herren damals nicht so präsent waren, vorangebracht."

Eine historische Aufnahme aus dem Jahr 1915 vom Alten Markt in Rellingen. © Verein für Heimatkunde Rellingen und Umgebung von 1976 e.V. Der Alte Markt mit Kirchturm in Rellingen. © NDR Foto: Sabine Alsleben

In der Aufnahme, vermutlich aus dem Jahr 1915 sieht man den alten Marktplatz - genannt Rellingens Urzelle. Bis auf das Gebäude am linken Rand sind alle Gebäude verschwunden. Das heute wesentliche veränderte Geschäftshaus wurde 1903 für den Hamburger Uhrmacher Reusch erbaut. Auf dem Platz steht heute außerdem das Replik eines alten Pumpenbogens, der damals für die Wasserversorgung benötigt wurde.

Kultur inzwischen fester Bestandteil in Rellingen

Was das soll, weiß man inzwischen in Rellingen sehr gut. Mit der allerersten Osterausstellung im Rathaus ging es los, das war eine Art Kunsthandwerkermarkt, der noch viele Jahre wiederholt wurde und wird - außer natürlich in Corona-Zeiten. Dazu kommen viele andere Ausstellungen, Konzerte, Theaterführungen. Seit 1987 ist die Gemeinde im Kreis Pinneberg regelmäßiger Festivalort des Schleswig-Holstein Musikfestivals - nicht zuletzt durch das Mitwirken von Marianne Stock. An die Zeit mit dem Mitgründer und erstem Intendanten des Schleswig-Holstein Musikfestivals, Justus Franz, erinnert sie sich gern: "Das war eine wunderschöne Zeit, muss ich wirklich sagen."

Eine historische Aufnahme der Hauptstraße 42 in Rellingen, aufgenommen Anfang des 20. Jahrhunderts. © Verein für Heimatkunde Rellingen und Umgebung von 1976 e.V. Eine Aufnahme der Hauptstraße 42 in Rellingen. © NDR Foto: Sabine Alsleben

In der Hauptstraße 42 entstand Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts die Urzelle der heute international agierenden Firma Hermann Meyer mit Sitz in Rellingen. Bevor nämlich am Alten Markt das „Kaiserliche Postamt“ entstanden ist, betrieb der Gastwirt Meyer quasi nebenberuflich die örtliche Kaiserliche Postagentur mit dem einzigen Telefonanschluss des Ortes für alle Bürger. Heute gehört das Gebäude zum gegenüberliegenden Hotel "Rellinger Hof".

Große Namen kamen in die Gemeinde

Auch Ida Ehre, Gründerin der Hamburger Kammerspiele, holte sie nach Rellingen. "Sie wohnte in der Hallerstraße in Hamburg und da habe ich sie mit meinem kleinen Auto abgeholt. Ich hätte mit ihr bis nach Flensburg fahren können, so gut haben wir uns unterhalten." Damals seien die Kontakte noch persönlicher gewesen, heute laufe ja alles über E-Mail, bemerkt Marianne Stock etwas wehmütig. Gleichzeitig berichtet sie von der Zusammenarbeit mit der Hamburger Musikschule, deren junge Sänger regelmäßig nach Rellingen kamen, vom regelmäßigen Besuch des Alma-Hoppe-Ensembles, vom Mitbegründer des Ernst-Deutsch-Theaters, Friedrich Schütter, sowie von Lesungen mit Schauspieler Will Quadlieg und seiner Schwester, Schriftstellerin Roswitha Quadflieg.

Eine historische Aufnahme vom Turnerheim in Rellingen, aufgenommen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. © Verein für Heimatkunde Rellingen und Umgebung von 1976 e.V. Eine Aufnahme vom Turnerheim in Rellingen. © NDR Foto: Sabine Alsleben

Das Bild, aufgenommen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zeigt die Kreuzung Hohle Straße/Friedenstraße/Jahnstraße. In der Mitte ist der Große Hof Krohn zu sehen, der in den 70er Jahren abgerissen und mit mehrgeschossigen Wohnhäusern bebaut wurde. In dem Haus ganz links befand sich die Mokerei Hatje. Das angeschnittene Strohdachhaus auf der rechten Seite war damals eine sogenannte Kleinbauerstelle und stammt etwa aus dem Jahr 1760. Es ist eines der letzten noch erhaltenen alten Häuser Rellingens, steht aber nicht unter Denkmalschutz. Es gehört heute dem Rellinger Turnverein.

Parteikollegin: "Frau Stock ist eine richtige Dame"

Im nächsten Jahr soll nun Schluss sein mit der Politik: "Da ist wieder Kommunalwahl. Und dann ist für mich wirklich auch Feierabend." Ihre "Nachfolger" führt sie schon seit einiger Zeit in die vielfältigen Aufgaben ein. Parteikollegin Katharina Butenschön beschreibt Marianne Stock so: "Eine engagierte, leidenschaftliche Politikerin, die mit offenen Augen durch die Gemeinde geht und für Kultur und Senioren das Beste herausholen will." Jennifer Drews, ebenfalls für die CDU in der Gemeinde tätig, ergänzt: "Frau Stock ist noch eine richtige Dame. Das ist wirklich bewundernswert und stirbt heute leider langsam aus." Jennifer Drews hat 2013 als bürgerliches Mitglied in Rellingen angefangen. Damals hatte Marianne Stock sie unter ihrer Fittiche genommen. "Sie hat mir geholfen, mich in der politischen Welt zurecht zu finden." Vor allem ihre Zielstrebigkeit findet sie faszinierend: "Sie hat die Kultur in Rellingen aufgebaut."

Eine historische Aufnahme vom Treppenaufgang zur Kirche in Rellingen, aufgenommen um 1905. © Verein für Heimatkunde Rellingen und Umgebung von 1976 e.V. Eine Aufnahme vom Treppenaufgang zur Kirche in Rellingen. © NDR Foto: Sabine Alsleben

Vom Treppenaufgang zur Rellinger Kirche hatte man um 1905 einen guten Blick auf den historischen Markplatz. Wenn man genau hinschaut, entdeckt man einen Pumpenbogen, der 1911 beseitigt und viele Jahre später mit einem Nachbau ersetzt wurde. Das Bild zeigt den Treppenaufgang zur Rellinger Kirche mit Blick auf den Historischen Marktplatz. Im Zentrum steht das „Ballhaus Nönchen“- gebaut 1901. Das Haus ist 1958 abgebrannt, das Gelände wurde zu einem Parkplatz für die Gemeinde. Eine kleine Anekdote: der Herr, der die Treppe beschreitet ist der Fotograf Hermann Möller selbst, der sich durch Zeitauslöser mit seiner Plattenkamera selbst fotografierte.

Aufhören fällt ihr nicht leicht

Dieses Werk soll nun unter anderem von diesen beiden Frauen nun fortgeführt werden. Aber so ganz wird sich Marianne Stock wohl nicht zurückziehen können und wollen: "Wenn sie mich brauchen und so lange ich körperlich noch alles kann, würde ich natürlich schon weiter helfen", sagt die 86-Jährige. So ganz leicht fällt ihr der Gedanke ans Aufhören nicht. Denn eine Marianne Stock hat eben nie richtig Feierabend. Das wird sie vermutlich auch nach dem Ende ihrer politischen Karriere nicht haben. Denn da ist ja zum Beispiel noch das Deutsche Rote Kreuz (DRK). Seit mehr als 40 Jahren organisiert sie dort einen Spielenachmittag für Senioren. Corona-bedingt muss das aber schon seit mehr als einem Jahr ausfallen. Sobald die Pandemie vorbei ist, soll dieser Nachmittag auf jeden Fall wieder stattfinden. "Ich könnte mir auch vorstellen, dann beim DRK ein paar mehr Aufgaben zu übernehmen", schmunzelt Marianne Stock.

Eine historische Aufnahme vom Alten Markt in Rellingen, aufgenommen Anfang des 20. Jahrhunderts. © Verein für Heimatkunde Rellingen und Umgebung von 1976 e.V. Eine Aufnahme vom Alten Markt in Rellingen. © NDR Foto: Sabine Alsleben

Das alte Bild zeigt eine Szene am aktiven Pumpenbogen auf dem Alten Markt Anfang des 20. Jahrhunderts. Dort wurde für die Bewässerung der Baumschulen Wasser gezapft. Ursprünglich war um die Jahrhundertwende 17./18. Jahrhundert eine fortschrittliche Feuerlöschanlage. Auf der linken Seite befand sich das „Kaiserliche Postamt, das um 1903 erbaut wurde. Beide Häuser sind noch erhalten – das linke leicht verändert, das rechte wurde erheblich umgebaut.

Schleswig-Holstein Musikfestivals macht Station in Rellingen

Bis dahin aber bleibt die Vorfreude auf den August. Die Kulturliebhaberin hat dafür gesorgt, dass zwei Konzerte des Schleswig-Holstein Musikfestivals in diesem Jahr wieder in Rellingen stattfinden können - corona-konform, unter freiem Himmel. Die Karten sind bereits ausverkauft.

Eine historische Aufnahme vom Rellinger Rathaus. © Verein für Heimatkunde Rellingen und Umgebung von 1976 e.V. Eine Aufnahme vom Rellinger Rathaus. © NDR Foto: Sabine Alsleben

Dieser Hof wurde 1827 vom Alten Marktplatz nach einem Totalbrandschaden an die heutige Hauptstraße (damals Steindamm genannt und einzige feste Straße) versetzt. Dort, wo damals die Scheune stand, ist jetzt das Rellinger Rathaus, zu dem das historische Gebäude inzwischen gehört.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Moin! Schleswig-Holstein – Von Binnenland und Waterkant | 07.05.2021 | 21:20 Uhr

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