Die neobarocke "Villa Baltic" wird von der Wintersonne beschienen. © NDR.de Foto: Daniel Sprenger

Vom "Judenschloss" zur Nachwende-Ruine

Stand: 17.12.2021 09:35 Uhr

Die Kühlungsborner "Villa Baltic" ist ein Spiegel deutscher Geschichte: Sie erzählt von jüdischem Aufbruch, Enteignung durch die Nazis und Neuanfang. Seit der Wende verfällt sie. Zwei Brüder aus Oldenburg wollen sie sanieren.

von Daniel Sprenger, NDR.de

"Das selten schöne Gebäude, der außergewöhnlich große, herrliche Park, in dem es steht, die Lage unmittelbar am Meer bieten die prachtvollsten Möglichkeiten der Erholung für die müden Nerven der geistigen Arbeiter": So schwärmerisch beschreibt die Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums die "Villa Baltic" in Arendsee Anfang der 1930er-Jahre. Das im Inneren mit Marmor ausgestattete Haus dient den jüdischen Akademikern zu dieser Zeit als Erholungsheim. Der breite kilometerlange Ostseestrand liegt direkt vor der Tür, das neobarocke Anwesen dominiert mit seiner säulengestützten Veranda, den Erkern, Türmchen und dem reich verzierten Giebel die Promenade.

"Villa Baltic": Bau mit morbider Melancholie

Mehr als 90 Jahre später ist die "Villa Baltic" immer noch ein beeindruckendes Haus - weiterhin das schönste in ganz Kühlungsborn, wie der Ort mittlerweile heißt. Doch statt prachtvoller Erhabenheit verströmt der Bau nun eine morbide Melancholie: Die hohen Fenster sind mit Sperrholz vernagelt, die Wände im Erdgeschoss mit Graffiti besprüht, aus der Balkonbalustrade ist das mittlere Stück herausgebrochen. Seit Jahrzehnten steht das Gebäude leer - und so mancher Kühlungsborn-Besucher vor der Frage, wie es so weit kommen konnte. Keine Gedenktafel erinnert an die Erbauer, kein Hinweisschild klärt über die wechselvolle Geschichte auf. Dabei ist die Historie der Villa exemplarisch: Sie steht als Spiegelbild für die deutsch-jüdische und deutsch-deutsche Geschichte des kompletten vergangenen Jahrhunderts und erzählt von Aufbruch, Enteignung, Vergessen, Neuanfang und Verfall.

Vom luxuriösen Privathaus zum Ferienheim für jüdische Akademiker

Auf dem Schwarz-Weiß-Foto von 1931 ist die "Villa Hausmann" von ihrer Promenadenseite hinter einem gepflegten Park zu sehen. © Archiv Wolfgang Bade, Kühlungsborn
Auf diesem Foto von Anfang der 1930er-Jahre liegt das Erholungsheim der Hausmann-Stiftung hinter einem gepflegten Park.

Die Spurensuche führt zunächst in die Heimatstube, ein kleines Museum in Kühlungsborn: In einem Schaukasten wird hier der jüdische Ursprung des Hauses thematisiert. Ein Foto zeigt Wilhelm und Margarete Hausmann. Der Berliner Rechtsanwalt und Notar lässt die Villa von 1910 bis 1912 für 2,5 Millionen Goldmark errichten - als Privathaus. Das Ehepaar bleibt kinderlos. Margarete Hausmann vermacht die Immobilie später der jüdischen Hochschule. 1931 eröffnet die ein Jahr zuvor gegründete "Akademische Gesellschaft Hausmann-Stiftung" darin ihr Erholungsheim, das bereits im ersten Jahr von 104 jüdischen Besuchern besucht wird: "Der Preis für volle Pension mit bester Verpflegung (rituell) beträgt täglich RM 5."

Arendsee ist damals bereits seit Längerem ein beliebter Ferienort für jüdische Familien. Viele haben hier ihre Sommerresidenzen errichtet. Die Besucher schicken Grüße nach Hause, in denen von der Sommerfrische in "Aronsee" die Rede ist. "Dieser Name hat sich unter den jüdischen Besuchern anstelle von Arendsee eingebürgert", erklärt Wolfgang Baade vom Heimatverein. Auf den Postkarten heißt es dann beispielsweise: "Oh, wie wunderschön ist Deutsch-Jerusalem in Aronsee!"

Nach der Machtübernahme der Nazis: "Arendsee wird judenrein"

Die Schwarz-Weiß-Aufnahme zeigt die "Villa Baltic" mit einer Hakenkreuzfahne auf dem Dach, um 1940. © Archiv Wolfgang Bade, Kühlungsborn
Vom jüdischen Erholungsheim zur Nazi-Villa: Nach der Enteignung der Hausmann-Stiftung weht eine Hakenkreuzfahne auf dem Dach der "Baltic".

Mit der Ferienidylle hat es jedoch schon bald ein Ende. Alexander Schacht von der Denkmalschutzbehörde Bad Doberan hat Dokumente zusammengetragen, die zeigen, wie nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 eine judenfeindliche Einstellung in Arendsee um sich greift. Eine Hetz-Kampagne gegen das "Judenbad" richtet sich auch speziell gegen die "Villa Hausmann". Sie wird von den Nazis als "kommunistischer und jüdischer Marmorpalast" oder ganz einfach als "Judenschloss" diffamiert. Im Juli 1935 titelt der "Niederdeutsche Beobachter": "Arendsee wird judenrein". Die Nationalsozialisten enteignen kurz darauf die Hausmann-Stiftung. Im Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 17. März 1936 heißt es lapidar: "Die Satzung vom 2. Januar 1930 wird aufgehoben, weil die Erfüllung des Stiftungszwecks nicht mehr möglich ist. Das Stiftungskapital wird dem Gemeindevermögen zugeführt."

Das Ferienheim für jüdische Akademiker wird dem Reichspropagandaministerium unterstellt und zum Gästehaus der "Joseph-Goebbels-Stiftung für Bühnenschaffende". Auf dem Dach weht fortan die Hakenkreuz-Fahne. Auch der Ortsname Arendsee verschwindet. Zum 1. April 1938 wird das Ostseebad mit dem benachbarten Brunshaupten und dem Dorf Fulgen zum Ostseebad Kühlungsborn zusammengelegt. Laut Wolfgang Baade ist auch die jüdische Bezeichnung "Aronsee" ein Grund für die Umbenennung: "Der Name musste verschwinden."

Florierender Betrieb als FDGB-Ferienheim

Der frühere Oberkellner der "Villa Baltic", Christian Mothes, zeigt, wo unterm Dach des Hauses sein Angestellten-Zimmer lag. © NDR.de Foto: Daniel Sprenger
Christian Mothes war früher Oberkellner in der "Baltic". Unter dem Dach hatte er sein Angestellten-Zimmer.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bleibt der von den Nazis geschaffene neue Ortsname bestehen. Und auch die frühere Villa Hausmann behält ihre angestammte Funktion als Ferienhaus. Nach jüdischen Akademikern und NS-Schauspielern verbringen - nach einem kurzen Intermezzo als sowjetisches Lazarett - jetzt DDR-Bürger ihren Urlaub im "Kurt-Bürger-Erholungsheim" des "Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes" (FDGB). Unter gewandelten politischen Vorzeichen bleibt auch das Unrecht, das den ursprünglichen Besitzern angetan wurde, bestehen: "Erst haben es die Nazis enteignet, dann haben es die Russen enteignet, dann hat es die DDR enteignet. Enteignet worden ist das Haus doch laufend", so Christian Mothes vor einigen Jahren gegenüber dem NDR.

Er betreibt ein Hotel in Kühlungsborn. In den 1980er-Jahren arbeitete er als Oberkellner in der "Baltic". Seine Erinnerungen an diese Zeit sind voller Anekdoten und kritischer Anmerkungen zum Umgang der DDR mit der Vergangenheit der Villa: "Die Leute haben nach der Geschichte des Hauses gefragt. Aber das mit den mehrfachen Enteignungen konnte man zu dieser Zeit natürlich nicht sagen. Nur die Nazis haben das gemacht, die Kommunisten haben das doch nicht getan. Die haben das doch dem Volk übergeben."

Lange Schlangen für Schweinesteaks für 3,75 Mark

Das Volk kam jedenfalls tatsächlich in Scharen: Auf der Marmortreppe habe sich jeden Tag eine lange Schlange gebildet, so Mothes. Dank staatlich festgelegter Preise für Essen und Trinken sei der Restaurantbesuch erschwinglich gewesen: "Es gab Steaks für 3,75 Mark, Soljanka für 1,65 Mark, Kännchen Kaffee für 1,98 Mark und Schokotorte für 1,45 Mark." Während der Wendezeit muss der FDGB wegen ausbleibender staatlicher Gelder Insolvenz anmelden. Die Villa schließt - und Mothes verliert seinen Job: "Wir haben noch eine Mahnwache gemacht, haben um unsere Arbeitsplätze gekämpft, obwohl wir wussten, das bringt alles gar nichts mehr."

Leerstand und Verfall nach der Wende

Rund um den Säulengang im Erdgeschoss steht der Schriftzug "Baltic", darüber ist ein Teil der Balkonbrüstung rausgebrochen. © NDR.de Foto: Daniel Sprenger
Ein Teil der Balkonbrüstung ist vor Jahren herausgebrochen. Seit der Wende leidet die Villa unter der Vernachlässigung.

Nach der Wende erfährt die Villa Baltic ein Schicksal, das symptomatisch für viele derartige Groß-Objekte in Ostdeutschland ist: Die Stadt verkauft das Gebäude in den 1990er-Jahren einmal für eine Mark. Versuche der neuen Besitzer, ein Café oder eine Disko zu betreiben, scheitern dennoch. Mothes hatte selbst auch einmal kalkuliert, ob es sich für ihn lohnen könnte, seine alte Wirkungsstätte zu kaufen. Sein Fazit: "Das rechnet sich nicht. Mit einem Café kannst du das Haus nicht unterhalten. Die Kosten sind einfach zu hoch." Das Gebäude geht zurück an die Stadt.

Dann wird 70 Jahre währendes Unrecht wieder gutgemacht und die Villa an die Jewish Claims Conference übergeben, die früheres Vermögen enteigneter Juden und ihrer Erben geltend macht. Die Institution verkauft das Gebäude 2003 - der Investor geht allerdings pleite. Die Villa steht weiterhin leer und verfällt. Dann richten sich die Hoffnungen auf einen Brandenburger Augenarzt. Er kauft das Gebäude und interessiert sich - als einziger Investor - zudem für die benachbarte, seit 2003 geschlossene Meerwasserschwimmhalle. Sein Plan: Über dem Schwimmbad sollen luxuriöse Hotelzimmer entstehen und so einen rentablen Betrieb auch der Villa ermöglichen. Die Stadtvertretung Kühlungsborn stimmt diesem Plan zunächst zu - doch es kommt keine Baugenehmigung.

Zwei Brüder aus Oldenburg wollen die "Villa Baltic" retten

Eigentümer Jan Aschenbeck steht im Treppenhaus der Villa Baltic in Kühlungsborn. © NDR Foto: Daniel Sprenger
Jan Aschenbeck will die Villa mit seinem Bruder Berend zusammen retten - in enger Abstimmung mit der Stadt Kühlungsborn.

Einige Jahre später gehört die Villa zwei Brüdern aus Oldenburg, Jan und Berend Aschenbeck. Sie haben zusammen mit Stadtvertretern ein Konzept für eine tragfähige Nutzung entwickelt und wollen das denkmalgeschützte Gebäude zu neuem Glanz führen. Auf dem einstigen Schwimmhallen-Grundstück nebenan wollen sie ein Hotel mit 120 Zimmern, Gastronomie und Einzelhandel errichten und an die Villa anbauen, die sogenannten Baltic Arkaden. Die Einnahmen daraus sollen Geld in die Sanierungskasse spülen, um die Villa selbst - die sich aus Denkmalschutzgründen lediglich für Gastronomie eignet - wieder flott zu machen.

Im Dezember 2021 stimmten die Kühlungsborner Stadtvertreter dem Verkauf des Nachbargrundstückes nun zu - gut möglich, dass dem weiteren Verfall der "Villa Baltic"damit demnächst ein Ende gesetzt werden könnte.

Weitere Informationen
Die Vorderfassade der Villa Baltic in Kühlungsborn, die von einem Bauzaun umgeben ist. © NDR Foto: Daniel Sprenger

Morbide "Villa Baltic": "Wir müssen jetzt handeln"

Wo einst Stuck und Marmor glänzten, wuchert heute der Hausschwamm. Doch der neue Eigentümer will den Verfall der "Villa Baltic" stoppen. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | 17.12.2021 | 06:00 Uhr

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