Professor Rainer Hering schaut in eine Akte und steht dabei in einem Gang zwischen zwei Regalen.  Foto: Werner Junge

Landesarchiv: Das Gedächtnis von Schleswig-Holstein

Stand: 28.06.2020 10:00 Uhr

Alle wichtigen Behörden-Unterlagen der letzten 150 Jahre liegen im Landesarchiv in Schleswig - auf 50 Regal-Kilometern. Doch ausgerechnet die Digitalisierung sorgt für mehr Platzbedarf.

von Werner Junge

Eine feinere Adresse gibt es in Schleswig kaum: Seit 1990 residiert das Landesarchiv im Prinzenpalais. Dieses Gedächtnis des Landes kann auf 150 Jahre zurückblicken. 1870 als preußisches Staatsarchiv am damaligen Sitz der Provinzialregierung in Schleswig gegründet, 1922 nach Kiel verlegt, kehrte es 1947 zurück nach Schleswig. Der Auftrag hat sich in den vergangenen eineinhalb Jahrhunderten nicht geändert, aber der Umfang. 50 Kilometer Akten lagern heute im Anbau des Palais, 155.000 Bücher, dazu Filmmaterial. Und zurzeit läuft die neue, die digitale Archivierung im großen Umfang. Nicht nur für Archivleiter Professor Rainer Hering eine neue, große Aufgabe. Hering leitet das LASH abgekürzte Archiv seit 2006.

"Wir wollen alles haben, nur kein Metall"

Rainer Hering hält eine Karte in der Hand, welche auf einem Tisch liegt.  Foto: Werner Junge
Rainer Hering leitet das Landesarchiv Schleswig-Holstein.

Laut klappt die erste Stahltür. Erst wenn sie geschlossen ist, öffnet sich die zweite. Magazine sind streng klimatisiert. Hering führt durch eine Schleuse ins Heilige. Bei 18 Grad und 50 Prozent Luftfeuchtigkeit stehen in deckenhohen, fahrbaren Schränken 50 Kilometer Akten in Kartons. Rainer Hering zieht ein Ablagebrett, holt einen der grauen Kartons heraus. Er hebt den Deckel hoch, darin sind lose Blätter, in einem dünnen Aktendeckel mit Bindfaden zugebunden. "Hier wollen wir alles haben, nur kein Metall". Der größte Feind des Archivars ist die Heftklammer. Sie rostet, kann wertvolle Dokumente verderben. Deshalb werden alle angelieferten Akten aus den Ordnern geholt die Heftklammern gezogen. "Entgräten" nennen das die Archivare.

Die Herkunft ist entscheidend

Ein Gang führt zu den Rollschränken in denen die Akten einlagern. © NDR Foto: Werner Junge
50.000 Meter Akten steht im Magazin des Landesarchiv. Sie sollen hier Jahrhunderte überdauern können.

In die natürlich klimatisierten Magazine kommt kein Besucher des Landesarchivs. Er würde dort auch nichts finden. Wer zum Beispiel etwas über Leuchttürme in Schleswig-Holstein wissen will, findet die nicht unter "L". Er muss den Archivar fragen. Der fragt nach dem Ziel der Recherche. Wenn es etwa um das Ende des 19. Jahrhunderts geht, holt er die Kartons mit den Akten der preußischen Provinzialregierung. Die war seinerzeit für das Leuchtfeuerwesen zuständig. Gelagert werden also die Bestände zusammen nach ihrer Herkunft: Das Archiv ist nach Provenienzen geordnet.

Archive dienen der Rechtssicherheit

Das Piileg von Ripen von 1460. © Landesarchiv S-H
Das wohl prominenteste Dokument im Archivbestand: Das Privileg von Ripen von 1460.

Archivare müssen gut zu Fuß sein. Durch lange Gänge im gelbbacksteinernen Anbau des Prinzenpalais geht es nun in die Schatzkammer. Einige Male muss Rainer Hering die Sicherungskarte zücken, bevor er im kreisrunden Kartensaal steht. Ihn füllen riesige graue Metallkartenschränke. Hier liegt das älteste Dokument des Landesarchivs von 1059, hier lagert auch das berühmte "Privileg von Ripen" - der darin enthaltende Halbsatz "dat se bleewen op ewich tosamende ungedelt" wurde im 19. Jahrhundert zum Beleg der Unteilbarkeit der Herzogtümer Schleswig und Holstein hochstilisiert. Hering hat sich die bereitliegenden weißen Baumwollhandschuhe übergestreift, bevor er eine Schublade rauszieht. Auf den Schrank kommt aus der Mappe kein mittelalterliches Dokument mit vielen Siegeln, sondern die schlichte Karte der Feldzuschnitte vor der Flurbereinigung in der Haseldorfer Marsch. Kein Zufallsgriff. Hering will auf die zentrale Funktion von Archiven hinweisen. "Archive" so Hering "sorgen für Rechtssicherheit". 3.000 Anfragen erreichen das Landesarchiv in jedem Jahr. Dank alter Verträge, Flur- und Katasterkarten kann in vielen Fällen Klarheit und damit Rechtsfrieden geschaffen werden.

Gefragt: Akten zur Entnazifizierung und Volkszählung

Aus dem Dunkel der Magazine geht es wieder ans Licht. Im Lesesaal sitzen an diesem Tag acht Leute. Sie beugen sich über die von den Archivaren bereitgelegten Akten, weil sie an einer Doktorarbeit, einer Ortschronik oder dem Familienstammbau arbeiten. 3.000 Interessierte nutzen den Lesesaal im Jahr. Dort stehen auch Kopien der ersten Volkszählung von 1806. Sie sind ein Renner. Genau wie die Entnazifizierungsakten.

Eine Frau sitzt vor dem Gerät welches Sicherheitsverfilmungen der alten Dokumente auf Film aufnimmt. © Landesarchiv S-H
Datensicherung: Auf Film wird jede Seite gebannt - und später in einem Stollen eingelagert.

Durch einen gläsernen Korridor ist Hering inzwischen wieder in der historische Dreiflügelanlage des Prinzenpalais angekommen. Hier werden auch alte Bücher und Schriften in der eigenen Werkstatt restauriert. Und hier wird verfilmt. Aus einem Karton wird Seite um Seite genommen und mit einer Spezialkamera auf 35-Millimeter-Film gebannt. Bild für Bild bis eine riesige Filmrolle belichtet ist. Der Film wird entwickelt und viele dieser Rollen in einem massiven Stahlfass hermetisch verschlossen. So wird nach den gewaltigen Verlusten an Archivmaterial im Zweiten Weltkrieg die Vergangenheit gesichert. Bei Freiburg werden die Fässer dann in einen Stollen bombensicher gelagert.

Digitale Akten sichern - eine Herausforderung

Neben den Papierakten lagern im Landesarchiv auch historische Filme. Die reichen zurück bis zur Kanaleinweihung vor 125 Jahren. Nicht so sicht- und anfassbar ist die größte aktuelle Herausforderung für das Landesarchiv: die Digitalisierung. Nicht nur das Land stellt auf digitale Akten um. Die sind jedoch erheblich schwerer zu sichern als Papier. Einmal ist es die Menge der Daten, dann müssen die ständig wachsenden Datenmengen auch regelmäßig überspielt werden, weil sie sonst nach wenigen Jahren verloren gehen - sie müssen "migriert" werden, wie es in der Fachsprache heißt. Und weil ein Archiv ja vor allem Rechtssicherheit schafft, darf nichts verloren gehen, erklärt Archivchef Hering. In Schleswig wird die Digitalisierung aller Archive im Land koordiniert und betreut. Eine Herkulesaufgabe. Hering hofft, das Land stellt auch künftig dafür die notwendigen Ressourcen bereit.

Prof. Rainer Hering am Portal des Landesarchivs in Schleswig © NDR Foto: Ernst Christ
AUDIO: Schleswig-Holstein-Schnack: Landesarchivchef Rainer Hering (16 Min)

Die Digitalisierung hat nicht erst im Jubiläumsjahr des Landesarchivs noch einen gewaltigen Nebeneffekt. Wo Akten digital geführt werden, will man sich vom Papier trennen. So türmen sich Aktenberge aus Ämtern und Verwaltungen unten an der Annahme des Magazins und die Archivmitarbeiter kommen mit dem "Entgräten" und Umpacken in die Pappkartons kaum nach. Dem Landesarchiv reichen deshalb 50 Kilometer Aktenstellflächen nicht mehr. Am Start der Digitalzeit braucht das Landesarchiv dringend ein neues Papiermagazin.

Aus Anlass des Jubiläums gibt es ein dickes "Findbuch", mit dem die Bestände des Archivs zu erschließen sind (das geht inzwischen allerdings auch online) und einen prächtigen Band "Die Schleswig-Holsteiner sind fortan Preußen" (Husum Druck), der an die Vorgeschichte der Gründungszeit des Landesarchivs vor 150 Jahren erinnert.

Weitere Informationen
Abbildung des Vertrags von Ripen © Landesarchiv Schleswig-Holstein - Signatur (Urk.-Abt. 394 Nr. 8)

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Moin! Schleswig-Holstein – Von Binnenland und Waterkant | 30.06.2020 | 21:15 Uhr

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