Die Aufnahme von 1941 zeigt eine Gruppe jüdischer Frauen und Kinder auf einer Straße in Minsk. © Bundesarchiv Foto: Ernst Herrmann

Juden-Deportation: Von Hamburg in das Grauen von Minsk

Stand: 08.11.2021 05:00 Uhr

Am 8. November 1941 wurden etwa 1.000 Hamburger Juden nach Minsk deportiert. Fast alle starben unterwegs oder wurden später getötet. Insgesamt verschleppten die Nazis rund 8.000 Juden, Sinti und Roma aus Hamburg.

Die Fahrkarte in den Tod erreicht etliche jüdischen Haushalte in Hamburg einen Tag zuvor am 7. November 1941. An diesem Tag erhalten der 20-jährige Heinz Rosenberg, seine Schwester Irmgard, ihre Eltern und Hunderte weitere ein Schreiben des SS-Kommandos.

Als Umsiedelung getarnter Zwangstransport

Heinz Rosenberg © United States Holocaust Memorial Museum Photo Archives
Der Hamburger Heinz Rosenberg hat als einer von wenigen deportierten Juden die Zeit in Weißrussland überlebt.

Es ist der Befehl, sich am darauffolgenden Vormittag mit gepackten Koffern im ehemaligen Logenhaus in der Moorweidenstraße einzufinden. "Der Wohnungsschlüssel ist vor Verlassen auf der nächsten Polizeistation abzugeben. Die Wohnung und ihr Inhalt darf nicht verkauft oder beschädigt werden", heißt es und: "Alles Eigentum, Konten, Bargeld und Wertgegenstände sind hiermit beschlagnahmt."

Anlass ist den Nazis zufolge eine groß angelegte Umsiedelung deutscher Juden in den Osten. In Wahrheit wartet auf Rosenberg und die anderen die Deportation nach Weißrussland, das die Deutschen im Sommer des Jahres überfallen und besetzt haben. Es ist der erste Zwangstransport europäischer Juden in die Sowjetunion. Als einer von wenigen wird Rosenberg die Reise nach Minsk und die kommenden Jahre überleben. Auch dank seiner Aufzeichnungen ist bekannt, welches Grauen die Hamburger und Zehntausende weitere Juden in Belarus erwartet.

Als "Feind der deutschen Regierung" kein Recht auf Eigentum

Vor der Abfahrt nötigen die Nazis in der Deportationsverwaltung sämtliche Juden dazu, folgenden Text zu unterschreiben: "Ich, der unterzeichnete Jude, bestätige hiermit, ein Feind der deutschen Regierung zu sein und als solcher kein Anrecht auf das von mir zurückgelassene Eigentum zu haben. Meine deutsche Staatsangehörigkeit ist hiermit aufgehoben, und ich bin vom 8. November 1941 ab staatenlos." Später werden sie von der Moorweidenstraße in Polizeiwagen zum Hannoverschen Bahnhof gebracht, der in der heutigen Hafencity liegt. Dort werden sie in Züge gedrängt. Ziel: Minsk. Die Fahrt beschreibt Heinz Rosenberg so:

"Die Waggons waren nicht geheizt, die Abteile waren mit Menschen und Gepäck überfüllt. Bei jedem Halt umstellten zunächst die SS-Wachen den ganzen Zug mit gezogenen Pistolen."

Deportierte müssen Leichen ehemaliger Getto-Bewohner wegräumen

Dreieinhalb Tage verbringen die etwa 1.000 Menschen eingepfercht in den Abteilen. Erst am Bahnhof Minsk dürfen sie aussteigen, um zu dem Ort zu marschieren, der künftig "Hamburger Getto" genannt wird - obwohl im Lauf der kommenden Monate Juden aus vielen anderen deutschen und europäischen Städten dort eingesperrt werden.

In dem mit Stacheldraht umzäunten Lager steht ein ehemaliges Schulhaus. Dort sollen die Angekommenen untergebracht werden. Als sie eintreten, stoßen sie auf Entsetzliches: Überall liegen Leichen herum. Es sind die weißrussischen Juden, die zuvor in dem bereits existierenden Getto gewohnt haben. Sie wurden in einer Ermordungsaktion der Nationalsozialisten erschossen, um für die reichsdeutschen Deportierten Platz zu machen - an dem Tag, als die SS-Vorladung an die Hamburger Juden erging.

Unter Gewaltandrohung zwingen die SS-Leute die Gefangenen dazu, die Leichen wegzuräumen. Auf den Tischen stehen noch die letzten Mahlzeiten der Ermordeten.

"Die Toten wurden auf einen Platz in den Hof getragen, das Inventar wurde einfach aus den Fenstern geworfen und später auf dem Hof verbrannt",

schreibt Heinz Rosenberg. In dem Haus ohne Wasser, Licht, Feuer und Möbel verbringen sie die erste Nacht.

Landgut als Verwaltungsort der größten Nazi-Vernichtungsstätte Weißrusslands

In den kommenden Tagen unterteilen die Nazis die Deportierten in arbeitsfähige "Funktionshäftlinge" und solche, von denen sie sich keinen Nutzen versprechen. Alte, Kranke und Schwache werden erschossen oder sterben an Hunger und Kälte. Rosenberg wird unter anderem für Holz- und Lebensmitteltransporte eingesetzt. In Minsk treffen nun regelmäßig Züge mit westeuropäischen Juden ein, zu deren systematischer Vernichtung die Nazis ein Dorf in der Nähe von Minsk auswählen: Malyj Trostenez.

Zu Erschießungen dröhnen deutsche Schlager

Dort wird die ehemalige Karl-Marx-Kolchose zum Gut des Kommandeurs der Sicherheitspolizei in Weißrussland umfunktioniert. Um ihre Versorgung mit Lebensmitteln und Waren des täglichen Gebrauchs sicherzustellen, setzen die Nazis Gefangene als Handwerker und in der Landwirtschaft ein. So wird das Gut zum Verwaltungsort der größten Vernichtungsstätte auf sowjetischem Boden. Zehntausende Menschen werden in dem nahe gelegenen Wald Blagowschtschina erschossen. Zeitzeugen berichten, dass die Erschießungskommandos während der Tötungsaktionen über eine Beschallungsanlage deutsche Schlager durch den Wald dröhnen ließen: "Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei".

Auch Großeltern von Liedermacher Biermann "in die Grube geschossen"

Auch etwa 20 Verwandte des in Hamburg lebenden Liedermachers Wolf Biermann, darunter seine Großeltern, kommen auf diese Weise um. "Sie alle, ohne eine einzige Ausnahme" seien - wohl im gleichen Zug wie die Familie Rosenberg - im November 1941 von der Moorweide nach Minsk in das Getto deportiert "und dann dort im Stadtwald von Soldaten in die Grube geschossen" worden, schreibt Biermann in einem Essay in der "Welt".

Weitere Informationen
Der Hannoversche Bahnhof um 1941. © Deutsches Zollmuseum

Juden, Sinti, Roma: NS-Regime deportiert Tausende Hamburger

Im Mai 1940 beginnt das NS-Regime am Hannoverschen Bahnhof in Hamburg mit systematischen Deportationen. mehr

Lkw als mobile Gaskammern

Etwa ab Juni 1942 setzen die Nazis in Trostenez auch sogenannte Gaswagen ein: Diese Lkw, von außen Möbelwagen ähnlich, haben einen kastenförmigen, luftdichten Aufbau. Durch einen Schlauch werden beim Anlassen des Motors die Abgase hineingeleitet. Pro Tötungsaktion ersticken so bis zu 100 Menschen. Ihre Leichen werden im Todeswald Blagowschtschina verscharrt. Auch Heinz Rosenbergs Eltern und seine Schwester werden in Gaswagen ermordet.

Sonderkommando vernichtet Spuren des Massenmordes

Anfang 1943 besiegt die Rote Armee die Deutschen bei Stalingrad. Weil sie die Konsequenzen ihrer Gräueltaten fürchten, beginnen die Besatzer, die Spuren der Massenmorde in Malyj Trostenez zu verwischen. Häftlinge aus Minsk müssen beim "Sonderkommando 1005" die Leichen mit Eisenhaken aus den Gruben ziehen, stapeln und verbrennen. Danach sieben sie die Asche, um Zahngold und Schmuck zu finden. Um keine Augenzeugen der Aktion am Leben zu lassen, werden diejenigen, die die "Enterdung" durchführen, regelmäßig selbst ermordet.

Auch das Getto Minsk wird aufgelöst: Fast alle Bewohner werden umgebracht, die Gebäude gesprengt. Der Hamburger Heinz Rosenberg überlebt und verbringt die Zeit bis Kriegsende in weiteren Konzentrationslagern, bis er bei der Befreiung von Bergen-Belsen 1945 durch die Briten auch selbst gerettet wird. Später emigriert er in die USA, wo er unter dem Namen Henry Robertson lebt. 1997 stirbt er in New York.

Weitere Informationen
Tafel am zentralen Gedenkort am ehemaligen Hannoverschen  Bahnhof in Hamburg © NDR Foto: Irene Altenmüller

Gedenkort erinnert an NS-Opfer

Vom Hannoverschen Bahnhof in der heutigen Hamburger Hafencity wurden während der NS-Zeit Tausende Menschen in den Tod geschickt. Heute erinnert daran ein Gedenkort. mehr

Überreste eines Massengrabs ermorderter Juden in Mirny bei Berditschew in der Ukraine. © picture alliance / akg Foto: Henning Langenheim

1968: Hamburger Gericht verurteilt SS-Täter

Für grauenhafte Verbrechen an der Ostfront werden am 9. Februar 1968 drei SS-Männer in Hamburg zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch keiner der Täter sitzt seine Strafe voll ab. mehr

SA-Männer kleben ein Plakat mit der Aufschrift 'Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden' an die Schaufensterscheibe eines jüdischen Geschäfts. © picture-alliance / akg-images

Die NS-Zeit: Krieg und Terror

1933 wird der Nationalsozialist Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Fortan setzt das NS-Regime seinen absoluten Führungsanspruch durch - mithilfe von Terror und Propaganda. mehr

Deutsche Truppen besetzen im September 1939 die polnische Stadt Posen. © picture-alliance / akg-images

Der Zweite Weltkrieg

Mit dem deutschen Überfall auf Polen beginnt am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg. Weltweit kostet er mehr als 50 Millionen Menschen das Leben. mehr

Dieses Thema im Programm:

Hamburg Journal | 25.10.2021 | 19:30 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

NS-Zeit

Hamburger Geschichte

Zweiter Weltkrieg

Bilder von Häftlingen zu sehen in einer Baracke der Gedenkstätte Auschwitz © NDR Foto: Christian Spielmann

Für das Leben lernen: Auschwitz und Ich

Am 27. Januar 1945 wurde das KZ Auschwitz befreit - für viele junge Deutsche nur noch ein Kapitel im Geschichtsbuch. Warum ist es heute und in Zukunft wichtig, die Erinnerung zu bewahren? mehr

Mehr Geschichte

Kaufhaus-Chef Franz Weipert 1974 bei der ersten offiziellen Fahrt der Gondelbahn über den Bootshafen in Kiel. © Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte Foto: Friedrich Magnussen

Als man in Kiel zum Einkaufen mit der Gondelbahn fahren konnte

Heute vor 50 Jahren wurde in Kiel eine ganz besondere Attraktion eingeweiht: die Weipert-Bahn, die über den Bootshafen führte. mehr

Norddeutsche Geschichte