Germanen-Wahn unterm Hakenkreuz in Mecklenburg

Stand: 01.04.2023 05:00 Uhr

Sie suchen das "germanische Erbe" und missachten slawische Spuren: In der NS-Zeit gehen Archäologen einen Pakt mit den Machthabern ein. Mit direkten Folgen: So wird der mecklenburgische Küstenort Alt-Gaarz am 1. April 1938 zu Rerik, benannt nach einer mythischen Wikinger-Burg.

von Heiko Kreft

Am 25. Mai 1935, nur fünf Tage nach Grabungsbeginn, jubelt der "Niederdeutsche Beobachter": "Reric steht wieder auf!". Beglückt berichtet das NSDAP-Parteiblatt für den Gau Mecklenburg-Lübeck über archäologische Funde am Schmiedeberg von Alt-Gaarz. Es ist organisiertes Forscherglück. "Man wusste ganz offensichtlich vorher, was man wollte. Und hat das, was man fand, auch in dieses Schema gepresst und genau so interpretiert, dass das Schema stimmte", meint Detlef Jantzen. Mecklenburg-Vorpommerns Landesarchäologe hat sich intensiv mit der Geschichte dieser Grabung beschäftigt.

Germanen-Kult statt Wissenschaft

Ausgrabungen in Alt-Gaarz Ende der 1930-er Jahre | Grabungsakte Rerik © Landesamt für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern
Ganz im Sinne der NS-Ideologie wurden bei den Ausgrabungen in Alt-Gaarz in den 1930er-Jahren slawische Relikte zu germanischen umgedeutet.

Die Nazis sind von der Frühgeschichte begeistert - auch Mecklenburgs Reichsstatthalter und NSDAP-Gauleiter Friedrich Hildebrandt. Ihm geht es aber nicht um die genaue Erforschung der Vergangenheit, sondern um eine Bestätigung seiner rassistischen Ideologie. Die fixe Idee: Eine hochstehende germanische Kultur habe in grauer Vorzeit gegen angeblich minderwertige slawische Kultur gestanden. Das soll die Grabung in Alt-Gaarz beweisen. Hildebrandt sucht die Bestätigung seines eigenen Germanen-Wahns. Wissenschaft und Wahrheit sind egal.

Hakenkreuz-Forscher in Bad Doberan

Der niederländische Geisteswissenschaftler und NS-Funktionär Herman Wirth © NDR
Der Niederländer Herman Wirth machte sich bei den Nationalsozialisten mit Untersuchungen zur Geschichte des Hakenkreuzes beliebt.

Das zeigt sich exemplarisch auch beim "Institut für Geistesurgeschichte" in Bad Doberan. Es wird 1932 vom Niederländer Herman Wirth gegründet. Mit finanzieller Unterstützung der damals schon nationalsozialistischen Landesregierung. Wirth, selbst zeitweise Mitglied der NSDAP, macht sich bei den Verantwortlichen mit Arbeiten zur Geschichte der Germanen und des Hakenkreuzes beliebt.

Untergebracht ist sein Institut im Möckelhaus, dem heutigen Stadt- und Bädermuseum. "Wirth hat in allem, was er gesehen und gelesen hat, irgendeine Symbolik und Mystik vermutet", berichtet Museumsleiterin Lisa Riess. "Ich halte das nicht für wissenschaftlich."

Herman Wirth - ein "Hellseher der Urgeschichtsforschung"

Das Möckelhaus in Bad Doberan. © NDR
1932/33 residierte im Bad Doberaner Möckelhaus das "Institut für Urreligionsgeschichte" des Niederländers Herman Wirth.

Germanische Symbole und Kulte, "ur-nordische Weltanschauung" - Wirths Schlagworte begeistern Mecklenburgs NS-Machthaber. Ende 1932 wollen sie ihn sogar zum Professor an der Uni Rostock machen. Die sozialdemokratische "Mecklenburgische Volkszeitung" kritisiert das heftig. Unter der Schlagzeile "Wir haben Geld wie Heu" schreibt sie im Dezember von "Edel-Rassenforschung", "miserablem Aprilscherz" und von Mecklenburg als "Land der unbegrenzten Möglichkeiten, seitdem die Nazis die Herrschaft angetreten haben." Auch renommierte Prähistoriker laufen Sturm, nennen Wirth den "Hellseher in der Urgeschichtsforschung".

Himmler und Wirth gründen das SS-"Ahnenerbe"

Wirths Berufung an die Rostocker Uni kann - auch Dank der bald nicht mehr existenten freien Presse - im letzten Moment verhindert werden. An seinem Doberaner Institut hält er weiter Vorträge und schreibt Bücher. Auf der Kühlung zwischen dem heutigen Kühlungsborn und Bad Doberan plant der Niederländer, der sich selbst gern im Germanen-Outfit zeigt, ein "Freilichtmuseum für ur-nordische Kultur". Doch dazu kommt es nicht. 1933 geht Wirth nach Berlin und gründet zusammen mit SS-Chef Heinrich Himmler das "Deutsche Ahnenerbe". Dort geht es um Germanen, Arier, Pseudowissenschaft.

Prähistoriker Robert Beltz wird zum Feigenblatt

Der Ur- und Frühgeschichtler Robert Beltz bei Ausgrabungen in Alt-Gaarz , undatierte Aufnahme | Grabungsakte Rerik © Landesamt für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern
Der bekannte Ur- und Frühgeschichtlicher Robert Beltz leitete in den 30ern die Ausgrabungen in Alt-Gaarz.

Ein Ansatz, der auch die Grabungen in Alt-Gaarz beschreibt. Um dem dortigen Unternehmen dennoch einen seriösen Anstrich zu geben, bittet Mecklenburg-Lübecks Gauleiter Hildebrandt deshalb den bekannten Ur- und Frühgeschichtler Robert Beltz um die Leitung. Der 81-jährige Schweriner Professor sagt zu, obwohl er einen guten Ruf zu verlieren hat. Ist es Eitelkeit? Ist es die Hoffnung auf eine archäologische Sensation?

Mythischer Ort Reric beflügelt NS-Fantasien

Die frühmittelalterliche Siedlung Reric inklusive einer verschwundenen Wikinger-Burg ist damals ein sagenumwobener Ort - so wie Vineta und Atlantis. Genaue Lage: unbekannt. Beflügelt wird die Fantasie durch einen Eintrag in den fränkischen Reichsannalen. Er berichtet, dass der Dänen-König Godofrid im Jahr 808 den florierenden Handelsplatz Reric mitsamt seiner Burg zerstörte und die Kaufleute nach Haithabu entführte. Eine stolze Wikinger-Burg an der mecklenburgischen Küste? Für NS-Bonze Friedrich Hildebrandt ist das eine Verlockung. Es würde - so seine Sicht - beweisen, dass Mecklenburg vor der slawischen Besiedlung germanisch war.

Eine Grabung im Schnelldurchlauf

Der Grabungsort "Schmiedeberg" in Alt-Gaarz auf einer Aufnahme von 1938 | Grabungsakte Rerik © Landesamt für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern
Der Grabungsort "Schmiedeberg" auf einer Aufnahme von 1938. Mittlerweile weiß man, dass die Burg- und Wallanlage altslawischen Ursprungs sind.

Seriöse Wissenschaftler sind auch damals skeptisch. "Beltz hat versucht, Mitarbeiter zu finden. Hat verschiedene Kollegen angeschrieben, ob sie ihm nicht Studenten zur Seite stellen können", berichtet Landesarchäologe Jantzen. Doch Beltz kassiert Absagen. Am Ende hilft ihm vor allem der Lehrer Willy Bastian - ein früher und überzeugter Nationalsozialist. Das zeigt die Grabungsakte im Archiv des Landesamt für Kultur und Denkmalpflege. Sie belegt auch, wie schnell die Grabungen in Alt-Gaarz durchgezogen wurden. "Es war auf jeden Fall eine sehr kurze Grabung. Sie hat nach allem, was wir wissen, knapp 15 Tage gedauert. Man hat schnell ein Schnitt angelegt, um das Profil dieses Burgwalles zu erschließen und um auch möglichst viele Funde zu bergen."

Wikinger-Name für Flak-Schule

Zeit genommen wird sich aber für die insgesamt 42 Besucher, zu denen auch Reichsstatthalter Hildebrandt gehört. Dem geht es neben dem Beweis für die "germanische Geschichte" Mecklenburgs auch um etwas ganz Konkretes: Auf der Halbinsel Wustrow, nur einen kleinen Spaziergang vom Grabungsort entfernt, entsteht gerade eine große Militär-Einrichtung. "Hildebrandt wollte unbedingt, dass hier diese historische Stätte lokalisiert wird. Damit er diesen Namen für die Flak-Artillerie-Schule übernehmen konnte und die neue Stadt dann Stadt Rerik nennen konnte",  erzählt Thomas Köhler, Leiter Reriker Heimatmuseums.

Aufmarsch der NS-Bonzen: Aus Alt-Gaarz wird Rerik

Reichsstatthalter und NSDAP-Gauleiter Friedrich Hildebrandt  bei der Umbenennung von Alt-Gaarz in Rerik am 1. April 1938. © Heimatmuseum Rerik
Am 1. April 1938 benannte Reichsstatthalter und NSDAP-Gauleiter Friedrich Hildebrandt Alt-Gaarz in Rerik um.

Genauso kommt es. Am 1. April 1938 - knapp drei Jahre nach der angeblichen Entdeckung des alten Rerics - gibt es in Alt-Gaarz einen großen Staatsakt. Gauleiter Hildebrandt und weitere NS-Bonzen kommen. Die Gemeinde wird zur Stadt erhoben, bekommt ein Wappen und den Namen Rerik verpasst. In einer Rede, abgedruckt im "Rostocker Anzeiger", faselt Hildebrandt von einem "historischen Meilenstein": "Der Boden, auf dem wir stehen, ist geschichtlicher Boden. [...] In allen Zeiten wohnten hier deutsche Männer, die bereit zum großen Wagnis waren und heute noch für uns ein Beispiel an Leistung und Gesinnung sind."

NS-Funktionäre tilgen slawische Spuren in Mecklenburg

Rerik ist nicht der einzige Ort in Mecklenburg, der 1938 umbenannt wird. Nur ein paar Kilometer weiter erhält auch Kühlungsborn seinen "germanisierten" Namen. Für die neue Stadt werden die Dörfer Arendsee und Brunshaupten zusammengelegt - ebenfalls am 1. April. Beim Umtaufen von neuen Dörfern geht den Nazis um das direkte Tilgen slawischer Spuren. So machen sie beispielsweise aus Wendisch Wehnigen Rüterberg, aus Wendisch Waren Finkenwerder, aus Wendischhof Wodenhof. Sie stören sich am "Wendisch", denn Wenden sind Slawen. Die Einwohner der Dörfer werden nicht gefragt. Viele fremdeln mit den neuen Namen - auch die Rerikerinnen und Reriker.

In der NS-Zeit umbenannte Orte in Mecklenburg

Reriks "Nazi-Name" bleibt

Ein Rettungsring mit Aufschrift "Alt-Gaarz" im Heimatmuseum Rerik erinnert an den alten Namen Reriks Alt-Gaarz. © NDR
An Reriks einstigen Ortsnamen Alt-Gaarz erinnert ein Rettungsring im Heimatmuseum.

Nach dem Ende der Nazi-Herrschaft will der Küstenort seinen historischen Namen Alt-Gaarz zurück. Am 14. März 1947 stimmen die Stadtvertreter darüber ab. Das Ergebnis ist klar: Einstimmig votieren sie dafür. Doch Kreis und Land lehnen ab, weiß Thomas Köhler. "Man hatte sicher andere Probleme, als sämtliche Postbücher umzuschreiben. Ich könnte mir aber durchaus vorstellen, wenn man diesen Antrag nach Gründung der beiden deutschen Staaten, vielleicht 1950/51 gestellt hätte, dass man es gemacht hätte." Tatsächlich wurden einige der 1938 umbenannten Orte erneut umgetauft. Rerik, Kühlungsborn und der Elbort Rüterberg hingegen behalten ihre "Nazi-Namen".

Politik statt Wissenschaft - ein teuflischer Pakt

Detlef Jantzen, Landesarchäologe von Mecklenburg-Vorpommern. © NDR
Für Archäologie-Institutionen sei der Pakt der Nazis ein Gewinn gewesen, so Wissenschaftler Jantzen. Aber: "Sie hätten es natürlich besser nicht getan."

Was aus der NS-Vergangenheit auch geblieben ist: Archäologie-Lehrstühle und Institute an deutschen Universitäten. Vor 1933 war das Fach institutionell schwach. Als "weltanschauliche Begründungswissenschaft" - so die Eigenbeschreibung in der NS-Zeit - ändert sich das. Tief verstrickt in den Rassen- und Germanen-Wahn wird die Archäologie mit belohnt.

"Insofern hat sich das für die Archäologie ausgezahlt, dass sie diesen teuflischen Pakt eingegangen ist", sagt Landesarchäologe Jantzen. "Aber man muss einfach ganz klar sagen: Sie hätten es natürlich besser nicht getan." Politik statt Wissenschaft, das schadete nicht nur dem moralischen Ansehen. Die ideologische Brille sorgte auch für falsche Forschungsergebnisse. Heute steht fest: Rerik war nie Reric. Die echte Wikinger-Burg lag höchst wahrscheinlich knapp 30 Kilometer entfernt - vor der Insel Poel.

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Dieses Thema im Programm:

Nordmagazin | 02.04.2023 | 19:30 Uhr

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