Stand: 14.09.2020 08:00 Uhr

"Dann hab' ich mich da rein gestürzt"

Die Designerin Heike Burgemann sitzt in ihrem Atelier in Brandenburg.
Heike Burgemann wird nach ihrer Ausbildung von einer westdeutschen Firma abgeworben.

Im Juni 1990 steckt Heike Burgemann mitten in ihrem Studium in Heiligendamm. Ihr Fach: Schmuckgestaltung an der Fachhochschule für angewandte Kunst - kurz FAK. Damals ein legendärer Studienort direkt an der Ostsee. Ihr Traum: ein Künstler-Leben auf dem Land - so wie es andere in der DDR damals vormachen. Als das Fernsehen in diesem Sommer 1990 über die Zukunft ihrer Schule berichtet, sieht es düster aus an der Ostsee. Ob die FAK weiter existieren und ausbilden wird, ist unklar. Was aus den Absolventen wird, ebenso. Damals sagt die junge Gestalterin der Reporterin ins Mikrofon: "Viele vom dritten Studienjahr, die eigentlich einen Arbeitsplatz sicher hatten, sind jetzt arbeitslos"- und, dass auch sie sich Sorgen mache.

Bleibt die Mauer offen?

Heute lacht Heike Burgemann und schüttelt ein bisschen den Kopf, wenn Sie die Fernseh-Bilder von damals sieht. "Das war halt so gewünscht, deshalb hab ich, glaub ich, so geantwortet", meint Sie im Rückblick. Denn als Gestalterin in einem Betrieb zu landen, das habe sie eigentlich nie gewollt. Doch noch im Sommer 1990, Monate nach der Friedlichen Revolution in der DDR, hat sie Angst, öffentlich etwas Unkorrektes zu sagen: "Ich hab das noch gar nicht so richtig geglaubt, dass das so bleibt mit der offenen Mauer", sagt sie heute mit Blick auf die Fernsehbilder von damals.

Eine Ehre und eine Enttäuschung

Schmuckstücke der Designerin Heike Burgemann aus ihrer Ausbildung.
Schmuckstücke wie diese überzeugten damals die westdeutsche Fachwelt - und sind noch heute im Atelier der Designerin zu sehen.

Doch die Deutsche Einheit kommt tatsächlich - und mit ihr kommen auch Headhunter nach Heiligendamm. Einem Designer aus Pforzheim, dem Zentrum der westdeutschen Schmuckindustrie, gefällt die Arbeit der jungen Frau. Er wirbt sie ab. So startet ihr Berufsleben weder im sozialistischen Betrieb noch als Künstlerin auf dem Land - sondern in einer völlig anderen Welt. Heike Burgemann zieht als Designerin ins tiefste Baden-Württemberg: "Ich fühlte mich auch sehr geehrt und dann hab' ich mich da rein gestürzt - was die ersten Jahre wirklich enttäuschend war."

Arbeiten in der neuen Schmuck-Welt

Denn nicht alle in Pforzheim haben auf die Neue gewartet: "Ich kam als junge Ossi-Studentin da an und wurde dann gleich Vorgesetzte von Leuten, die sich viel besser auskannten im westdeutschen Geschäft", erklärt sie. Und auch sie selbst muss sich in dieser Branche erst zurechtfinden. In der DDR habe sie gelernt, Ideen aus sich heraus oder der Natur zu schöpfen, nun kommt es auf etwas ganz anderes an: "Da war es üblich, sich ein Bild über die Frauen- und Modezeitschriften zu machen, von dem, was gerade so 'in' ist. Das kannte ich gar nicht - diese Werbe-Industrie."

Neuland mit "Weckle und "Schneckle"

Die Designerin Heike Burgemann und ihre Eltern
In der Familie hat das Goldschmiede-Handwerk Tradition. Heike Burgemann führt heute das Geschäft ihrer Eltern weiter.

Probleme macht außerdem der Dialekt, den sie im Beruf manchmal kaum versteht. Ihr ganzer Alltag wird für die Brandenburgerin zum Neuland. Sinnbild dafür: der Weg zum Bäcker: "Da kannte mich keiner. Und dann diese ganzen Worte für Weckle und Schneckle und so - das war ganz unangenehm", erinnert sie sich heute mit einem Lachen. Doch sie kämpft sich durch. Hart sei gewesen, dass sie nicht einfach mal mit ihren Eltern sprechen konnte. Im Osten gibt es damals kaum Telefon-Anschlüsse. Um sich weiterzuentwickeln, studiert Heike Burgemann schließlich ein zweites Mal in Pforzheim. Sie will als Künstlerin arbeiten. Den Schritt zurück in den Osten macht sie Mitte der 90er-Jahre: In ihrer Heimatstadt Brandenburg übernimmt sie die Goldschmiede-Werkstatt ihrer Familie, arbeitet nebenbei als Dozentin und an Skulpturen und Grafiken.

Fachschule fürchtet Abwicklung

Die ehemalige FAK Heiligendamm, heute Sitz der Entwicklungsgesellschaft des Investors Jagdfeld.
Die FAK kämpft in den 90er Jahren lange um ihren Standort. Heute ist das Gebäude Hauptsitz der ECH Entwicklungs-Compagnie des Investoren Jagdfeld.

Während die ehemaligen FAK-Studenten wie Heike Burgemann ihren Weg im vereinten Deutschland suchen, kämpft die Schule in Heiligendamm um ihre Zukunft. Eine DDR-Fachschule gilt im vereinten Deutschland nichts mehr - auch wenn mehrere Gutachten ihr ein hohes fachliches Niveau bescheinigen. Die FAK fürchtet ihre Abwicklung. Lehrende und Studenten machen gemeinsam Druck auf die Politik. Wochenlang demonstrieren sie im Sommer 1991 vor der Staatskanzlei in Schwerin - mit Erfolg: Heiligendamm ist vorerst gerettet, gehört zunächst zur neuen Fachhochschule Stralsund, dann zu Wismar - aber nur als Außenstelle.

Investor kauft 1995 im Paket

Zeitgleich sucht der Ort nach einem Investor für das älteste Seebad Deutschlands. Die Bedingung: Die Gebäude sollen nur im Paket veräußert werden, damit der historische Kern erhalten bleiben kann. 1995 werden 26 Immobilien an die Kölner Fundus-Gruppe um Investor Anno August Jagdfeld verkauft - auch die Fachschule. Im Jahr 2000 müssen die Studierenden endgültig Abschied nehmen. Die Lehre soll künftig nicht mehr in der Außenstelle, sondern ausschließlich in Wismar stattfinden, wo ein moderner Neubau für die Designer entstanden ist.

Letzte Spuren der Künstler

Die ehemalige FAK Heiligendamm, heute Sitz der Entwicklungsgesellschaft des Investors Jagdfeld.
In den Baracken der FAK-Werkstätten finden sich noch immer Spuren des Studenten-Lebens. Sie werden heute als Lagerräume von der Jagdfeld-Gruppe genutzt.

Spuren der legendären FAK gibt es Heiligendamm aber auch 20 Jahre später noch. In den alten Werkstatt-Baracken haben Studenten offenbar zum Andenken Ausstellungsplakate hinterlassen. Künstlerische Reliefs in der Fassade des Hauptgebäudes verraten die Vergangenheit genauso wie der Name der Fachschule, der noch im Mauerwerk über dem Haupteingang zu lesen ist. Ein Schriftzug daneben dagegen informiert: Hier hat jetzt die Firma von Immobilien-Investor Jagdfeld ihren Hauptsitz.

Zurück zu den Wurzeln

Heike Burgemann gestaltet heute in ihrer Werkstatt Schmuck, der Geschichten erzählen soll. Ihre Eheringe haben "laute" und "leise" Designs - je nachdem, welche Persönlichkeiten ihr begegnen - und sie spiegeln immer Einzelheiten aus dem Leben des künftigen Ehepaares wider. Um diese Arbeit heute zu machen, habe sie beide Ausbildungen gebraucht, meint Heike Burgemann - sowohl die im Osten als auch die im Westen. Noch immer finden sich zwischen den neuen Stücken in ihrem Atelier einige Armreifen und Ketten, die für ihren Abschluss in Heiligendamm entstanden sind und schon 1990 im Fernsehen zu sehen waren - während ihrer Ausbildung in einer stürmischen Zeit an der Ostsee.

 

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Nordmagazin | 19.09.2020 | 19:30 Uhr

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