Am 9. Oktober 1961 errichten Bautrupps in Berlin unter Bewachung Fallgruben und Panzersperren. © picture-alliance / akg-images Foto: Gert Schuetz

Bausoldaten: Mit dem Spaten bei der Nationalen Volksarmee

Stand: 26.07.2021 16:52 Uhr

Nach 1964 ist es in der DDR möglich, den Dienst mit der Waffe aus Glaubens- und Gewissengründen zu verweigern - als sogenannter Bausoldat. Wer das tut, hat allerdings keinen leichten Stand.

von Eva Storrer

"Woran glaubt der, der als Fahne vor sich her einen Spaten trägt?", singt die legendäre Rockband Renft in ihrem Lied "Glaubensfragen" 1974. Damit bricht die Band ein Tabu: Das Lied ist den ostdeutschen Bausoldaten gewidmet, deren Existenz die DDR lieber verschweigt. Wegen "Wehrkraftzersetzung und staatsfeindlicher Hetze" kommen zwei Bandmitglieder in Haft. Das Lied und die Band werden verboten.

Dienst ohne Waffe - die ersten "Spatensoldaten"

Bausoldat bei der NVA. © Robert-Havemann-Gesellschaft Foto: Berndt Püschel
Sie mussten nicht nur hart arbeiten, sondern wurden auch bespitzelt: Bausoldaten bei der NVA.

Im Januar 1962, wenige Monate nach dem Mauerbau, wird in der DDR die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Das stößt besonders bei den Kirchen auf Kritik. Sie fordern die Möglichkeit auf Kriegsdienstverweigerung aus Glaubens- und Gewissensgründen. Schließlich gibt die DDR-Führung nach und setzt am 16. September 1964 - als einziges Land im Warschauer Pakt - die Anordnung über den Dienst ohne Waffe in Kraft. Wer den Kriegsdienst verweigert, wird für 18 Monate als Bausoldat einberufen. Die waffenlosen Soldaten werden zunächst für den Bau militärischer Anlagen eingesetzt, später auch als Krankenpfleger oder Küchenhelfer. Die Bausoldaten sind Angehörige der Nationalen Volksarmee (NVA). Weil auf den Schulterklappen ihrer Uniform ein Spaten abgebildet ist, werden sie auch "Spatensoldaten" genannt.

Soldaten zweiter Klasse: Isoliert und dennoch militärisch gedrillt

Dass junge Männer in der DDR den Dienst mit der Waffe verweigern können, wird von den staatlichen Behörden unter der Decke gehalten. Es könnten zu viele werden und würde nach innen wie nach außen einen schlechten Eindruck machen. Von den "normalen" Soldaten werden die Bausoldaten so weit wie möglich isoliert. Bei ihren Vorgesetzten haben sie keinen leichten Stand. "Es kam mir damals so vor, als wären das Soldaten zweiter Klasse, weil sie so behandelt wurden, als wären sie Gefangene", erinnerte sich einst der ehemalige Major Werner Pieniak.

KdF-Heim in Prora auf Rügen. Zu DDR-Zeiten dienten Teile des Gebäudes als Kaserne der NVA. © ZB - Fotoreport
KdF-Heim in Prora auf Rügen. Zu DDR-Zeiten dienten Teile des Gebäudes als Kaserne der NVA.

Wie beschwerlich der Dienst ohne Waffe damals ist, daran hat sich Rolf-Ingo Ohlemann vor einigen Jahren im NDR gut erinnert. Von 1982 bis 1984 ist er als Bausoldat in Prora auf Rügen stationiert. Eigentlich soll seine Truppe bei der Erweiterung des Hafens helfen. Dennoch werden die Bausoldaten militärisch gedrillt: Zum Essen müssen sie in Marschformation antreten oder stundenlang am Strand mit Schutzmaske marschieren.

An der Tagesordnung: Demütigungen und Schikanen gegen Bausoldaten

Auch am Sonntag müssen die Bausoldaten arbeiten, häufig in der Küche. Eines sonntags beispielsweise erhalten sie die Aufgabe, einen Parkplatz mit Schotter aufzufüllen, wie Rolf-Ingo Ohlemann erzählte. Die Arbeit erweist sich als reinste Schikane: Vor Ort gibt es einen Radlader, der die Arbeit rasch erledigen könnte. Dennoch müssen die Bausoldaten die Arbeit mühsam mit der Schubkarre ausführen.

Auch Heiner Möhring, von 1967 bis 1969 als Bausoldat in Prora stationiert, erinnerte sich im Rahmen der "Erinnerungen für die Zukunft" im Jahr 2004 an sinnlose Demütigungen: "Wir wurden aufgefordert, unser Zimmer sauber zu machen. Da waren solche gebohnerten Holzfußböden, und wir sollten dort den alten Bohnerwachs abkratzen - ohne Hilfsmittel. Uns wurde gesagt, wir könnten ja die Zahnbürste dazu nehmen."

Die Bausoldaten wehren sich - vergeblich

Die Bausoldaten versuchen, sich zu wehren. Ihre Waffe ist nicht das Gewehr, sondern die Eingabe. Im Januar 1969 schreibt Heiner Möhring mit seinen Kollegen an den Staatsrat der DDR: "Seit gut einem Jahr leisten wir unseren Dienst in der Nationalen Volksarmee. Wir arbeiteten während dieser Zeit nur für militärische Zwecke (...) Wir erkennen heute, dass die hier zu leistende Arbeit im Widerspruch zu unserem Anliegen steht (...) Wir bitten Sie daher, gemeinsam mit uns nach Möglichkeiten zu suchen, die es uns erlauben, die Forderungen unseres Gewissens besser zu erfüllen." Doch statt eines anderweitigen Aufgabenfeldes bekommen sie eine Verwarnung: Ihr Brief verstoße gegen die Beschwerde- und Eingabeordnung der NVA, die "eine Eingabe im Rahmen von Gruppen" verbiete.

Auch Rolf-Ingo Ohlemann und seine Kollegen verfassen einen Brief, adressiert an den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker. Ihr Anliegen formulieren sie in Frageform: "Sehr geehrter Herr Honecker! Sollte man nicht auf das an Bildung und Stellung in der Gesellschaft gewachsene Bewusstsein junger Menschen bauen, indem ihre Aktivitäten bei der Erfüllung gemeinsamer Aufgaben einbezogen werden, statt sie in befehlsgesteuerte Hierarchien einzugliedern, wo Verantwortung und Gewissen an den Vorgesetzten delegiert werden?" Das Schreiben schicken die Bausoldaten erst nach ihrer Entlassung ab. Als Antwort bekommen sie keinen Brief, sondern Hausbesuche. Jeder Einzelne wird in seiner Wohnung von einem Genossen des FDJ-Zentralrats aufgesucht und von der Staatssicherheit beobachtet.

Bausoldaten im Visier der Stasi

Bespitzelt zu werden auf Schritt und Tritt - das muss auch Reimund Wegner erleben. Mitte der 80er-Jahre bekommt der junge Schweriner Kontakt zur Kirche, tritt aus der FDJ aus und arbeitet als Krankenpfleger in einer evangelischen Einrichtung bei Bernau. Als er dort einem Friedenskreis beitritt, wird er zum Fall für die Staatssicherheit. 1987 wird Reimund Wegner zur Armee eingezogen, als Bausoldat auf dem Flugplatz Laage. Weil er sich in einem "feindlich-negativen" Umfeld bewege, eröffnet die Stasi gegen ihn eine "Operative Personenkontrolle" (OPK) unter dem Namen "Aussatz".

Rund um die Uhr wird Reimund Wegner beobachtet. Das ist für die Stasi ein Leichtes: In fast alle Bautruppen hat sie Inoffizielle Mitarbeiter eingeschleust. Im Januar 1989 ändert die Stasi ihre Strategie und versucht, Reimund Wegner als Informanten anzuwerben. Weil dieser jede Zusammenarbeit ablehnt, beschließt das Ministerium für Staatssicherheit, ihn mit "zielgerichteten Diskreditierungsmaßnahmen" zu bestrafen. Doch das Vorhaben, Reimund Wegner in Verruf zu bringen, kommt nicht mehr zustande. Wenige Monate später ruft das Volk auf der Straße bereits: "Stasi raus!"

Der Fall Rainer Eppelmann

Rainer Eppelmann. © dpa picture alliance Foto: Felix Zahn
Rainer Eppelmann verweigerte das Gelöbnis und wurde zu einer Haftstrafe verurteilt.

Für Frieden und Gerechtigkeit kämpft auch Rainer Eppelmann. 1966 wird er zum Bausoldatendienst nach Stralsund einberufen. Dort muss er ein Gelöbnis ablegen, das sich vom militärischen Fahneneid kaum unterscheidet: Lediglich die Passage "mit der Waffe in der Hand" ist gestrichen. Nach langem Überlegen entschließt sich Eppelmann, das Gelöbnis nicht abzulegen - und wird zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. Ironie der Geschichte: Nach der Wende wird der einstige Kriegsdienstverweigerer Rainer Eppelmann zum letzten Verteidigungsminister der DDR ernannt und mit der Vorbereitung der Auflösung der NVA beauftragt.

Downloads

Mit dem Spaten bei der Nationalen Volksarmee - Originalversion

Die ungekürzte Fassung des Textes aus der Reihe "Erinnerungen für die Zukunft" von NDR 1 Radio MV. Download (235 KB)

Die Wende

Von Jahr zu Jahr werden es mehr, die den Dienst an der Waffe ablehnen. Sind es 1984 noch 1.000 Verweigerer, hat sich die Zahl vier Jahre später verdoppelt. Bis sie schließlich von ihrer Aufgabe ganz entbunden werden: Zum letzten Mal müssen Bausoldaten im Herbst 1989 einrücken. Am 1. März 1990 tritt die Verordnung über den Zivildienst in der DDR in Kraft.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | 15.09.2004 | 19:00 Uhr

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