"Wir trauten unseren Augen nicht"
Zeitzeugenbericht von Werner Gonsior
Werner Gonsior erlebt die Sturmflut 1962 mitten in Wilhelmsburg. Er ist damals zehn Jahre alt und schildert seine Erlebnisse aus der Sicht eines Jungen - nicht erschreckend und dramatisch, sondern eher abenteuerlich und voller Emotionen:

"Ich wohnte mit meiner Familie geografisch gesehen wohl fast genau in der Mitte von Wilhelmsburg: Ziegelerstieg 2, Parallelstraße zur Georg-Wilhelm-Straße, zwischen der Ziegelerstraße und dem Kurdamm. Es war der 16. Februar, als ein Klassenkamerad und ich aus der katholischen Volksschule Bonifatiusstraße, die wir besuchten, den Heimweg antraten. Der Wind aus Nordwest blies so stark, wie wir ihn noch nie vorher erlebt hatten. In Höhe des ehemaligen Friedhofs, wo damals die Industriebahn von der Straße Schmidts Breite kommend in Richtung Rangierbahnhof entlang führte, spielten wir in diesem orkanartigen Sturm "Sprung aus den Wolken" - gleich der amerikanischen Fernsehserie, deren Hauptdarsteller zwei Fallschirmspringer waren, die uns sehr beeindruckten. Wir hatten das Gefühl, gegen den Sturm nicht umkippen zu können. Er hielt uns aufrecht, obwohl wir das Gefühl hatten, fast mit den Nasen den Boden berühren zu können.
Zu Hause angekommen, verlief das Leben recht normal. Zwar war der enorme Sturm ein Thema, doch aus den Nachrichten, wie meine Mutter später berichtete, ging nicht die Dramatik hervor, die sich in den nächsten Stunden ereignen sollte. Es herrschte die allgemeine Meinung "Die Deiche sind sicher!". So war es nicht verwunderlich, dass die Familie den Abend normal schloss und zu Bett ging. Unser Vater, der Spätschicht hatte und auf der Peute arbeitete, berichtete später von dem enorm hohen Wasserstand, den er beobachtet hatte.
Es war am frühen Morgen, noch lange keine Weckens-Zeit, als meine Mutter völlig aufgebracht in das Zimmer kam, in dem mein Bruder und ich schliefen, und rief: 'Das Wasser ist da! Das Wasser kommt!'. Unsere Wohnung lag in der ersten Etage. Das Zimmer, in dem wir schliefen, war zum Hof gelegen, wo sich auch die Zugänge zum Keller und zur Waschküche befanden. Diese führten zwei Stufen vom Hof hinab und hatten wegen der etwas tieferen Lage einen kleinen Sielabfluss, der bei heftigem Regen und Verstopfung manchmal überfordert war, sodass Regenwasser auch in die Kellergänge gelangte. So vermuteten wir in unserem Halbschlaf auch dieses Mal solch eine kleine Überschwemmung in unseren Kellerräumen und verstanden die uns entgegengebrachte Panik ganz und gar nicht. Mit der Einstellung 'Wischt doch selber das bisschen Wasser aus dem Keller' wollten wir uns im Bett wieder umdrehen und weiterschlafen. Doch Mutter gab keine Ruhe, bis sie uns ans Stubenfenster gebracht hatte.
- Teil 1: Spielend durch den Wind
- Teil 2: Hausgemeinschaft zieht auf den Trockenboden
- Teil 3: Versorgung aus der Luft
