Verharmlost und vergessen: Rechte Gewalt vor Lichtenhagen

Stand: 24.08.2022 10:20 Uhr

1992 kommt es in Rostock-Lichtenhagen tagelang zu einem rassistischen Gewaltexzess. Die Bilder gehen um die Welt. Fast vergessen sind dagegen dutzende Angriffe auf Geflüchtete, die schon lange vorher passierten.

von Jette Studier

Gewaltbereite Nazis hatte es bereits in der DDR gegeben. Doch lange deckelte die Staatssicherheit den Rechtsextremismus. Offiziell existierte das Problem nicht. Nach der Wiedervereinigung wird die Szene auf der Straße sichtbar - und zieht, auch gesteuert von Nazi-Funktionären aus dem Westen, immer mehr Jugendliche an. Zeitgleich gilt in der ehemaligen DDR nun das bundesdeutsche Ausländerrecht: Im Einigungsvertrag ist festgehalten, dass die fünf neuen Länder zusammen ab sofort 20 Prozent aller Asylbewerber in Deutschland aufnehmen müssen.

 "Die Kinder haben vor Angst geschrien"

Natalia Kalougina, 1991 Aslybewerberin in Schwerin © NDR
Natalia Kalougina wird als Asylsuchende 1991 aus Hamburg nach Schwerin umverteilt.

Eine dieser Schutzsuchenden ist Natalia Kalougina, die bereits 1989 nach Hamburg gekommen war. Die Behörden verteilen ihre Familie nach der Deutschen Einheit allerdings um - entsprechend der neuen Quote nach Ostdeutschland. Mit ihren zwei kleinen Kindern landet die Chor-Dirigentin aus Odessa in Schwerin. Zu dritt beziehen sie ein Zimmer in einem ehemaligen Lehrlingswohnheim. Kurz darauf, im Mai 1991, wird die Unterkunft von Rechtsextremen angegriffen: "Das war schrecklich", erzählt Natalia Kalougina heute. "Die Flaschen mit Molotowcocktails flogen in die Fenster und die Kinder haben vor Angst geschrien. Die Eltern mussten ihre Ohren und Augen zuhalten."

30 Menschen sind in dem Heim untergebracht - aus Rumänien, Jugoslawien, Afghanistan, Ghana und dem Iran haben sie Schutz in Deutschland gesucht. Nun werden sie mit Steinen und Knüppeln angegriffen. Das Heim ist am Ende verwüstet, die Familien werden in Notunterkünfte gebracht. 

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Überfälle auf Heime in Mecklenburg-Vorpommern häufen sich

Bereits im Sommer 1991 - und damit ein Jahr vor den brutalen Übergriffen in Rostock-Lichtenhagen - ist Gewalt gegen Geflüchtete in Mecklenburg-Vorpommern an der Tagesordnung. So überfallen 15 Jugendliche im Juli in Wismar eine Unterkunft für jugoslawische Familien, zerschlagen Fenster und brüllen Parolen wie "Ausländer raus!". Mehrere Menschen werden verletzt. In Trollenhagen bei Neubrandenburg steigen am selben Wochenende fünf Vermummte in eine Unterkunft ein und schlagen eine Frau zusammen. Die Bewohner des Heims schlafen in den Tagen darauf auf den Fluren, weil sie Angst vor einem weiteren Angriff haben. 

Kein Wachdienst in Ueckermünde am Abend

Das Asylbewerberheim in Ueckermünde ist nach einem Überfall 1991 zerstört. © NDR
Im August 1991 wird eine Unterkunft für Geflüchtete in Ueckermünde von 30 Maskierten angegriffen und demoliert.

An einem Sonnabend im August 1991 überfallen 30 Maskierte in Ueckermünde eine gerade erst eingerichtete Unterkunft, zerstören Fenster, besprühen Menschen und Einrichtung mit Löschschaum, zünden ein Auto an. Ein fünf Monate altes Kind muss im Krankenhaus behandelt werden. Manfred Quägber ist damals Heimleiter der Unterkunft in Ueckermünde und noch vor der Polizei vor Ort: "Wir haben dort ein Elend vorgefunden", erinnert er sich an das Bild. "Alles lag draußen vor dem Heim auf der Wiese. Sie konnten ja nichts mehr machen. Das war alles unbrauchbar. Es sah wüst aus." Er erinnert sich auch daran, dass die Bewohner der Unterkunft dem Überfall an diesem Abend schutzlos ausgeliefert waren. Weder Polizei noch ein privater Wachdienst sorgten für Sicherheit. Die randalierende Gruppe sei eben ohne Probleme hinein gekommen, sagt der ehemalige Heimleiter heute: "Die Tür stand ja offen".

Polizeischutz wird nach wenigen Wochen wieder eingestellt

Die Sicherheit der Geflüchteten beschäftigt im Herbst auch die Landesregierung in Schwerin. Der erste Innenminister Mecklenburg-Vorpommerns, Georg Diederich (CDU) lässt im Oktober drei Wochen lang alle Unterkünfte des Landes am Wochenende bewachen. 2.400 Polizisten sind dafür im Einsatz. Sie hätten dafür gesorgt, dass "jeder Überfall, jedes Vorkommnis, das in Bedrohungen gegen die Asylbewerber ausarten konnte, im Keim erstickt werden konnte", sagt der Minister bei einer Abschluss-Pressekonferenz zur Aktion. Doch die Dauerbewachung wird wieder eingestellt. Es habe damals nicht die Kraft dafür gegeben, zu viele Polizeikräfte seien gebunden gewesen, erklärt Diederich heute: "So wurde dann in Anbetracht der Erkenntnisse, die sich aus diesem einen Monat ergeben haben, entschieden, dass größere Angriffe flächendeckend nicht zu befürchten waren."

Asylbewerber in Saal wird zu Tode geprügelt

Ein Graffiti zum Gedenken an den ermordeten rumänischen Flüchtling Dragomir Christinel © NDR
Ein Graffiti erinnert in Ribnitz-Damgarten an den Tod des rumänischen Asylbewerbers Dragomir Christinel im März 1992.

Wenige Monate später, im März 1992, wird in einer Flüchtlingsunterkunft in Saal bei Ribnitz-Damgarten der 18-jährige rumänische Asylbewerber Dragomir Christinel zu Tode geprügelt. Am Abend vor seinem Tod hatte es in einer nahegelegenen Disco eine Auseinandersetzung gegeben: Vier Rumänen werden von einer Gruppe deutscher Jugendlicher angegriffen. Einer der Asylbewerber verletzt dabei einen 19-jährigen Deutschen mit einem Messer.

An nächsten Abend machen sich knapp 30 junge Männer auf den Weg zur Asylbewerberunterkunft. Der Wachdienst bekommt nicht mit, dass einige von ihnen ins Fenster einsteigen. In den Baracken finden die Jugendlichen allerdings nicht den Angreifer aus der Disco, sondern Dragomir Christinel und einen Freund. Mit Knüppeln prügeln sie den 18-Jährigen - er stirbt. Einen ausländerfeindlichen Hintergrund wollen Polizei und Staatsanwaltschaft damals zunächst nicht sehen. Für sie ist die Tat ein Racheakt nach einer Schlägerei unter Jugendlichen.

Jugend-Initiative will an Dragomir Christinel erinnern

Das würden viele Menschen bis heute so sehen, meint Ribnitz-Damgartens Bürgermeister Thomas Huth (Die Unabhängigen). Für ihn dagegen ist das Motiv klar: "Wenn er ein Deutscher gewesen wäre, dann hätte es wahrscheinlich auch den Ärger gegeben. Aber er wäre am Ende nicht tot gewesen. Das ist ein rassistischer Hintergrund", sagt Huth. Der Grund dafür, dass er jetzt tot ist: "Dass er Ausländer war."

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Trotzdem ist die Tat in der Region heute fast vergessen - wie nahezu alle Überfälle und Anschläge abseits der Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen. Eine Initiative des alternativen Jugendzentrums in Ribnitz-Damgarten will das nicht länger hinnehmen. Schon jetzt erinnert ein Graffiti des Opfers über dem Eingang ihres Jugendzentrums an Dragomir Christinel. Auch in einem kleineren Touristen-Ort sei das wichtig, meinen sie: "Das zeigt doch auch den Leuten, die die Stadt besuchen, dass wir versuchen, unsere Geschichte aufzuarbeiten. Damit so etwas nicht wieder passiert", sagt Oliver Müller vom Alternativen Jugendzentrum. Zurzeit sucht seine Initiative nach Angehörigen des Opfers in Rumänien. Bald soll ein Gedenkstein in Ribnitz-Damgarten an den Tod von Dragomir Christinel erinnern. Die Stadt unterstützt das Gedenken.

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Unsere Geschichte | 24.08.2022 | 21:00 Uhr

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