Lübeck 1989: Sonderzug in die Freiheit
Die wartende Menge auf dem Bahnsteig jubelt ausgelassen, als die DDR-Bürger mit dem Zug in den Lübecker Bahnhof einfahren. Nach zwei Tagen und einer Nacht im Zug hat ihre Flucht aus der Deutschen Demokratischen Republik über die Prager Botschaft ein glückliches Ende - und das ist auch in ihren Gesichtern zu sehen. Angefangen hatte es für sie mit einer Nachricht aus dem West-Radio, die sich in den volkseigenen Betrieben (VEB) und den Familien in Rostock oder Leipzig wie ein Lauffeuer herumsprach. Außenminister Hans-Dietrich Genscher hatte den rund 5.000 Flüchtlingen aus der DDR, die teilweise monatelang auf dem Gelände der bundesdeutschen Botschaft in Prag kampiert hatten, mitgeteilt, dass sie ausreisen konnten.
Sie ließen alles stehen und liegen
Jetzt sahen sie ihre Chance. Junge Leute, allein oder in Gruppen, Familien, die ihre kleinen Kinder versteckten, halbe VEB-Belegschaften, die die Arbeit einfach liegen ließen und sich spontan als Touristen getarnt über die DDR-Grenze in die Tschechoslowakei schmuggelten. Dort bildeten sie zu Tausenden den zweiten Ansturm auf die Prager Botschaft. Auch für sie kamen wenig später, am 4. Oktober 1989, die Sonderzüge in die Freiheit, von denen einer über Dresden und Hof in Bayern in den Norden nach Lübeck geleitet wurde. Dass ich viele ihrer Fluchtgeschichten und Schicksale auf dieser historischen Zugfahrt kennenlernen sollte, ahnte ich bis zum Nachmittag dieses Tages noch nicht.
Mit kiloschwerem Funktelefon nach Hof
"Ihr Koffer ist doch noch gepackt!" Mit diesen Worten empfängt mich NDR 1 Welle Nord Hörfunkchef Gerd Schneider, als ich von der Jurysitzung eines Schreibwettbewerbs am Nachmittag des 4. Oktober 1989 ins Kieler Funkhaus zurückkehre. Ein kurzer Anruf zuhause, dann geht es auch schon mit einer kleinen Propellermaschine nach Hof in Bayern, damals der Grenzbahnhof zur DDR. Hier sollen am Abend die Sonderzüge mit den Flüchtlingen aus der Prager Botschaft eintreffen. Meine Ausrüstung: ein nagelneues, sensationelles tragbares Funktelefon von mehreren Kilogramm Gewicht sowie meterlanger Antenne, Kopfhörern und Mikrofon. Damit baue ich mich in Hof auf dem offenen Bahnsteig auf und warte gemeinsam mit immer mehr werdenden Journalisten.
Jubel, Tränen und Erleichterung
Wir warten die ganze Nacht. Gerüchte machen die Runde. Erst später erfahren wir, dass es in Dresden Auseinandersetzungen gegeben hatte. Demonstranten hatten den Bahnhof besetzt, um an die Sonderzüge in die Freiheit zu kommen. Erst in den frühen Morgenstunden rollen die Waggons bei Hof über die Grenze - und wenig später in den kleinen Bahnhof. Lachende, weinende und jubelnde Menschen lehnen aus allen Zugfenstern. Sie haben einen Tag und eine Nacht voller Ungewissheit im Zug hinter sich. Aus ihrem Leben in der DDR sind ihnen nur ein paar Kleinigkeiten geblieben.
Live-Reportage in den leeren Äther
Auf dem Bahnsteig hantiere ich hektisch mit dem neuen Super-Funktelefon. Endlich steht eine rauschende Verbindung ins Kieler Funkhaus und ich bin live auf Sendung. Ich berichte vom Jubel und den Tränen der Menschen um mich herum. Ich versuche, die Distanz des Berichterstatters zu wahren, aber die Erleichterung, die Freude, die Gefühle der Menschen in diesem Augenblick haben auch mich erfasst. Später werde ich erfahren, dass die Verbindung ins Funkhaus schon nach ein paar Sekunden zusammengebrochen war und sich meine Reportage im leeren Äther über Bayern verlor.
Fluchtgeschichten auf der Reise durch Deutschland
Dann sitze ich zwischen den Flüchtlingen im Zug nach Lübeck. Dränge mich in die Abteile, in denen sie jetzt schon seit einem Tag und einer Nacht unterwegs sind - am Körper oft noch die Kleidung, mit der sie vorgestern oder am Tag davor die DDR verlassen haben. Dazu mischt sich der Geruch von Kaffee, Käsebrötchen und Wurst von der Bahnhofsmission. Nach dem Jubel und der Erleichterung kommt jetzt die Müdigkeit. Trotzdem erzählen sie mir ihre Geschichten. Von der Schwester, die hoffentlich in einem der anderen Züge sitzt. Von den Arbeitskollegen, die sie einfach noch mitgenommen haben, sechs Mann aus einem Betrieb: "Wir haben die halbe Firma aufgelöst!." Dass einen Monat später die Mauer fallen würde, ahnt da noch niemand. Aber alle sind sich einig: "Das Leben in der DDR, das geht nicht mehr. Die sind da stehend k.o."
Baby im Gepäcknetz versteckt
Die Menschen im Zug wollen mehr vom Leben. Fast alle sind sie jung. Allein, zu zweit oder mit Freunden und Kollegen sind sie in die Prager Botschaft geflüchtet. Familien mit Kindern sehe ich nur wenige. Kinder durften nicht mit in die CSSR, wissen sie. Die DDR-Grenzer hätten Verdacht geschöpft und sie näher unter die Lupe genommen. Ein junges Elternpaar hat es trotzdem riskiert. Ihre erst drei Wochen alte Tochter Mandy hatten sie im Gepäcknetz zwischen Taschen und Mänteln versteckt und Mandys Schnuller zuvor in Schnaps getaucht, um das Kind "zu betäuben". Das ging zuerst gut. Aber bei der zweiten Kontrolle fing sie doch an zu schreien. "Doch die Tschechen hat es nicht interessiert", erzählt der Vater.
Mit leeren Händen in der Freiheit
Noch mussten sie sich für die DDR-Kontrolleure als Touristen tarnen. Allzu viel Gepäck, Papiere, Familienalben oder Wertsachen wären da verräterisch gewesen. Ihre Eltern und Freunde in der DDR jemals wiederzusehen, damit konnten sie nicht rechnen. Auch ihre Wohnungen und persönlichen Dinge wie Briefe, Tagebücher und Erinnerungsstücke haben sie zurückgelassen. Etliche haben sogar ihre Trabbis und Wartburgs verschenkt. Viele Jahre lang hatten sie beim Kauf auf ihr Auto warten müssen. Jetzt hatten sie Schlüssel und Papiere am Zaun der Prager Botschaft einfach einem Tschechen in die Hand gedrückt, denn seinem Land verdankten sie ja dieses Schlupfloch in die Freiheit.