Nudisten der FKK-Anlage "Jungmöhl" bei einer Schiffstour auf dem Plauer See. © NDR

Nackt, frei, vegetarisch: Visionen vom radikal anderen Leben

Stand: 07.07.2022 09:25 Uhr

Weg von den Zumutungen der Großstadt und dem Leistungsdruck des Kapitalismus: In den 1920er-Jahren entstehen in Mecklenburg, Holstein und der Lüneburger Heide FKK-Anlagen. In der "Jungmöhl" etwa leben manche Siedlerfamilien das ganze Jahr über.

von Heiko Kreft

Lärm, Dreck, Menschenmassen: Deutschlands Großstädte sind nach 1900 alles andere als paradiesisch. Die "Lebensreform" will das ändern. Die soziale Reformbewegung versteht sich als Gegenbewegung zur Industrialisierung und will "Zurück zur Natur!". Vegetarische Ernährung, Körperertüchtigung und Sonnenbäder sollen es richten. Zu den "lebensreformerischen" Grundregeln gehören zudem der Verzicht auf Alkohol und Nikotin. Ein weiterer, sehr populärer Aspekt: Freikörperkultur. In der Weimarer Republik erlebt FKK einen ersten Höhepunkt. Überall gründen sich Vereine, denn öffentliches Nacktbaden ist verboten.

"Wir sind nackt und sagen Du!"

Die Lebensreformer am Plauer See bei der Morgengymnastik © NDR
Kollektiver Frühsport steht bei den "Lebensreformern" der "Jungmöhl" täglich auf dem Programm.

Politisch sind die Vereine äußerst divers. Der Berliner Adolf Koch und seine Anhänger stehen den Sozialdemokraten nahe. Motto: "Wir sind nackt und sagen Du!". Daneben gibt es bürgerliche und deutschvölkische Nudisten-Vereine. "Während die Völkischen ein Zurück zur 'deutschen Natur', zum sogenannten Germanen - den es nicht gab - wollen, wollen die Bürgerlichen zurück zur 'biblischen Natur'. Adam und Eva ist das Stichwort", berichtet Bernd Wedemeyer-Kolwe. Er leitet das Niedersächsische Institut für Sportgeschichte in Hannover und ist ein ausgewiesener Kenner der deutschen FKK-Historie.

"Jungmöhl" am Plauer See wird zum Nudisten-Paradies

Radikal anders leben: Am Plauer See in Mecklenburg wird das ab 1929 probiert - in der privat betriebenen FKK-Anlage "Jungmöhl" des "Lebensreformers" Johannes Müller. Er möchte in Mecklenburg seinen Lebenstraum verwirklichen. Es ist sein zweiter Anlauf. Der erste in Bayern scheitert an missgünstigen Nachbarn, übereifrigen Polizisten und einer Anklage wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Müllers Verbrechen: ein nackter Hintern bei der Getreideernte. Der Sohn eines Baptistenpredigers wagt deshalb den Neuanfang in Mecklenburg. "Ich habe mir manchmal Gedanken darüber gemacht, ob bei dem Weg, den mein Vater gegangen ist, auch vielleicht ein Teil Aufsässigkeit gegen das Elternhaus dabei war", fragt sich Tochter Renate Eichner. Sie ist heute 89 Jahre alt und kann sich gut an die Zeit in der "Jungmöhl" erinnern.

Spartanisches Leben ohne Fleisch und Kaffee

Die Nudisten der FKK-Anlage "Jungmöhl" sind Selbstversorger. © NDR
Die "Jungmöhl"-Gäste versorgen sich mit dem, was der Garten hergibt. Alkohol und Nikotin sind verpönt.

Den "Jungmöhl"-Gästen verspricht Johannes Müller "Ferien vom Ich". Morgens ruft er sie per Gong zur Gymnastik am Seeufer. "Da bin ich dann mit, mein Vater mit Tamburin vorneweg", so Eichner. "Und dann wurde Frühsport gemacht und ins Wasser gegangen. Nachher musste man dann zusehen, wie man trocken wurde." Denn das Abtrocknen mit Handtuch ist verpönt. Müllers Methode: Trockenfrottieren. "Das waren bestimmte Übungen, die sich immer wiederholten, bis man den ganzen Körper mehr oder weniger trocken hatte."

Die "Jungmöhl"-Unterkünfte sind spartanisch. Alle "Lichtlufthütten" sind aus Schilf, haben weder Fenster noch Türen. Auch beim Essen geht es einfach zu. Weder Fleisch noch Alkohol oder Kaffee. Obst und Gemüse kommen aus dem eigenen Garten. Ein großer Spaß sind Touren mit dem Dampfer "Loreley". Das Charter-Boot schippert die Nackten durch die Mecklenburgische Seenplatte. Das sorgt für viel Aufsehen. Um noch mehr Gäste anzulocken, schaltet Müller Anzeigen in FKK-Zeitschriften.

Weltweit größter FKK-Verlag im niedersächsischen Egestorf

Diese Zeitschriften werden vor allem vom Egestorfer Robert Laurer Verlag produziert. Er residiert seit 1924 in dem Dorf am Rand der Lüneburger Heide und mausert sich schnell zum damals weltweit größten Verlag dieser Art. Chef ist der Deutsch-Böhme Robert Laurer. Er gibt unzählige Bücher und Zeitschriften heraus, zum Beispiel das zweiwöchentlich erscheinende Blatt "Licht-Land" und die monatliche Illustrierte "Lachendes Leben". Allein vom "Lachenden Leben" werden deutschlandweit rund 42.000 Exemplare pro Ausgabe verkauft.

"In Egestorf selbst gab es sie aber nicht", weiß die Egestorfer Gemeinde-Archivarin Marlies Schwanitz. "Robert Laurer beschäftigte zeitweise 20 Personen. Wenn die Hefte fertig gedruckt waren, mussten sie zum Bahnhof gebracht werden. Das waren Riesenmengen. Die Post hat sogar am Sonntag gearbeitet, und auch bei der Bahn musste zeitweise ein extra Waggon angehängt werden, um die vielen Pakete zu transportieren."

Laurers Themenwelten: Religion, Sex und Politik

Alte Zeitschriften aus dem Egestorfer "Robert Laurer Verlag" © NDR
Zeitschriften vom "Robert Laurer Verlag" in Egestorf: Die Themenfelder reichen von Sex bis Politik.

Laurers Hefte bieten damals einen schillernden Themen-Mix. Neben Besinnungsaufsätzen wie "Freikörperkultur und Religion" gibt es Reportagen aus aller Welt, Nachrichten aus den FKK-Vereinen und Sexualaufklärung. Die Hefte atmeten den freien Zeitgeist der Weimarer Republik, sagt Volkskundler Wedemeyer-Kolwe. "Wenn man da reinsieht in diese Zeitschriften, wie die Werbung aufgemacht ist, wie mit Fotografien geworben wird, mit Kanus, mit Nivea-Hautöl - das ist unglaublich modern." In beiden Zeitschriften geht es aber auch um Politik: "Wir haben völkische Abschnitte, wir haben Adolf Koch mit der proletarischen Körperkultur. Da wird sehr bunt und sehr breit diskutiert. Und das ist durchaus liberal", erläutert Wedemeyer-Kolwe.

Sittenwächter rümpfen die Nase - und verbieten Ausgaben

Nacktfotos des "Robert Laurer Verlag" aus Egestorf © NDR
Wie viel Nackheit ist erlaubt? Der Egestorfer Verleger kommt auch in Konflikt mit dem Gesetz.

Selbsternannten Sittenwächtern gefallen die Egestorfer Zeitschriften eher nicht. Immer wieder werden einzelne Nummern beschlagnahmt. Es hagelt Anzeigen und Verbote. 1926 steht Laurers Verlag vor dem Aus: Acht Ausgaben von "Lachendes Leben" sollen verboten und vernichtet werden. "Diese Anzeige war wohl sehr massiv", berichtet Marlies Schwanitz. "Es kam in Lüneburg zu einem Prozess. Laurer und sein Chefredakteur Walter Brauns wurden angeklagt." Der Vorwurf: gemeinschaftliche Herausgabe unzüchtiger Schriften. Tatsächlich werden Laurer und Brauns verurteilt - zu je 1.000 Mark oder je 50 Tagen Gefängnis.

Prozess um "Nacktheit als Verbrechen"

Laurer und Brauns erheben Einspruch, denn sie wollen ein Grundsatzurteil. Sind alle Nacktbilder unzüchtig? Oder sind sie es nicht? Der Fall wandert vom Lüneburger Amts- zum Lüneburger Landgericht. Dort werden Hunderte Bilder inspiziert. Aus München wird sogar der Hauptkonservator des Nationalmuseums einbestellt. Als Experte soll er urteilen: Ist das Kunst? Oder muss das weg? Vor Gericht entspannen sich hanebüchene Dialoge um Schamhaarlängen und Schatten auf weiblichen Brüsten. Laurer bringt das Gerichtsprotokoll später als Buch heraus. Titel: "Nacktheit als Verbrechen". Am Ende des Lüneburger Prozesses steht ein weitgehender Freispruch für Laurer und Brauns.

"Lichtschulheim": Glüsinger FKK-Internat erregt Aufsehen

Der Lebensreformer Walter Fränzel gründete in Glüsingen eine Reformschule. © NDR/Video-Magic/Heiko Kreft
Der "Lebensreformer" Walter Fränzel gründet in Glüsingen eine Reformschule für Sprösslinge von FKK-Fans.

Ein weiteres ungewöhnliches Kapitel der FKK-Geschichte spielt sich ganz in der Nähe von Egestorf ab. In Glüsingen will der Reformpädagoge Walter Fränzel 1927 ein "Lichtschulheim" gründen. Dafür braucht er den Segen der Schulbehörde. Vor Ort stellt er den Beamten seinen Plan vor. "Mein Großvater hat gleich erzählt, was er alles vorhat: Nacktunterricht, Erziehen ohne Zwang und zur freien Gesinnung", berichtet Harald Fränzel. "Meine Großmutter hat ihm auf den Fuß getreten. Er sollte nicht so viel von nackt erzählen."

Doch in der liberalen Weimarer Republik ist so eine besondere Schule offenbar kein Problem. Am 1. Mai 1927 geht es los: eine Klasse, sechs Kinder. Alles Sprösslinge von FKK-Fans. Gemeinsam wird morgens durch Wiesen, Felder und Wälder gelaufen, natürlich nackt - zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter. "Das hat schon Aufsehen erregt. Die konservativen Bauern, die haben ihn halt für verrückt erklärt. Und damit war die Sache erledigt", weiß Fränzel.

Weltweites Interesse an norddeutscher FKK-Bewegung

Nicht nur die Einheimischen finden das Glüsinger "Lichtschulheim" unorthodox. Journalisten aus der ganzen Welt kommen in das kleine Dorf und berichten über die Schule und ihren Gründer. 1930 schaut der Chinese Timothy Wang vorbei. "Der hat eine Rundreise durch Europa gemacht und war mehrere Tage hier", erzählt Harald Fränzel. "Das muss im November gewesen sein, es war ziemlich kalt. Er hat die Kinder bewundert, wie sie bei der kalten Temperatur barfuß Sport treiben." Im Jahr nach seinem Besuch in Glüsingen bringt Wang in Shanghai das Buch "Neue Wege in Europa" heraus. Darin beschreibt er auch ausführlich den Freilichtpark Klingberg in der Nähe von Scharbeutz, einer großen FKK-Anlage am Pönitzer See.

Klingberg in Holstein wird Hotspot für Nudisten aus Amerika

Auch das amerikanische Journalisten-Ehepaar Frances und Mason Merrill besucht diesen Park. "Die waren mehrere Wochen da und haben dann ein Buch geschrieben. Das ist 1931 herausgekommen und hat einen Boom von amerikanischen und englischsprachigen Gästen ausgelöst", erzählt Gertrud Kummer. Sie hat die Geschichte Klingbergs erforscht. Tatsächlich finden sich in den Klingberger Gästebüchern seitenlange Einträge von Engländern, Amerikanern, Südamerikanern. Der Freilichtpark, gegründet von Paul Zimmermann, entwickelt sich zum internationalen Hotspot der Nudisten-Szene. Nirgendwo ist das FKK-Leben mondäner als dort. "So wie sie kamen, durften sie alle Hüllen fallen lassen und nur noch baden und spazieren gehen. Es war ein Urlaub ohne Stress."

In den USA ist man auch damals deutlich prüder. Die Merills schwärmen in ihrem Buch von Klingberg. "Als dieses Buch in Amerika veröffentlicht wurde, hat man in den Büchereien die Seiten mit den Nacktfotos noch rausgeschnitten. Nach 1931! Muss man sich mal vorstellen", sagt Kummer. "Da waren wir hier in Klingberg ein ganzes ganzes Stück voraus."

Nationalsozialisten verbieten 1933 freie Nacktkultur

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ändert sich auch für die FKK-Bewegung vieles. Ein Großteil der Weimarer Freiheiten wird wieder einkassiert, Vereine werden verboten oder gleichgeschaltet. Hermann Göring erlässt noch im Frühjahr 1933 ein Nacktbadeverbot für die preußischen Gebiete. Die FKK-Anlage in Egestorf und das "Lichtschulheim" in Glüsingen werden geschlossen. Auch Klingberg gerät unter Druck: Paul Zimmermann soll seinen Freilichtpark dem nationalsozialistischen "Bund für Leibeszucht" unterstellen. Doch er weigert sich und spürt die Konsequenzen. Mitgliedern der einzigen erlaubten FKK-Vereinigung wird der Besuch in Klingberg untersagt. Zudem bleiben zunehmend ausländische Gäste fern.

Vorwurf der Judenfreundlichkeit: Aus für die "Jungmöhl"

Nudisten der FKK-Anlage "Jungmöhl" baden im Plauer See. © NDR
Noch bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges ist das freie FKK-Leben in der "Jungmöhl" möglich.

Eine gewisse Schonfrist hat die "Jungmöhl" am Plauer See in Mecklenburg. Anders als in Preußen gibt es im Mecklenburgischen auch nach der Machtübernahme der Nazis kein generelles Nacktbadeverbot. Doch auch Johannes Müller wird massiv unter Druck gesetzt, sich dem "Bund für Leibeszucht" anzuschließen. Bis zum Sommer 1935 hält er durch. "Ein Gast war in Plau beim Friseur, kam abends wieder und sagte: 'Beim Friseur haben sie erzählt, morgen machen wir die 'Jungmöhl' dicht'", erinnert sich Irmgard Buchholz, die heute 94 Jahre alte Tochter des "Jungmöhl"-Gründers. "Ich weiß, dass wir in die Nachbarschaft geschickt wurden. Wir sollten das nicht miterleben. Es sind wohl drei Autos vorgefahren und viele Leute ausgestiegen. Und der erste Vorwurf, den sie uns machten, war Judenfreundlichkeit."

Tatsächlich wird die "Jungmöhl" deswegen geschlossen. Müller zieht vor Gericht und erzielt einen Teilerfolg. Die "Jungmöhl" darf wieder aufmachen - allerdings unter einer Bedingung: Müller muss sich dem NS-Bund unterstellen. Spätestens mit Beginn des Zweiten Weltkrieges endet das freie FKK-Leben in der "Jungmöhl". Johannes Müller wird zur Wehrmacht eingezogen. Im Januar 1945 verliert sich seine Spur an der Ostfront. Frau und Kinder können die "Jungmöhl" nicht mehr weiter betreiben.

Weitere Informationen
Das Gebäude des ehemaligen "Lichtschulhauses" in Glüsingen © NDR Foto: Heiko Kreft

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Unsere Geschichte | 29.06.2022 | 21:00 Uhr

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